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Gnosis

Gnosis

Titel: Gnosis
Autoren: Adam Fawer
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PROLOG
8. OKTOBER 2005 – 23:09 UHR (2 JAHRE, 84 TAGE BIS ZUR NACHT DES JÜNGSTEN GERICHTS)
     
     
    Dr. Elliot Dietrich lief durch den strömenden Regen zu seiner Haustür. Nachdem er alle Taschen durchsucht hatte, fand er endlich den Schlüssel und steckte ihn hastig ins Schloss. Der Riegel rührte sich nicht – die Tür war nicht abgeschlossen.
    Dietrich erstarrte, die Schlüssel in der Hand. Die spärlichen Haare, die ihm noch verblieben waren, klebten ihm vom Regen am Schädel. Er hatte noch nie vergessen, abzuschließen. Irgendjemand war im Haus gewesen. Oder dieser Jemand war noch da drinnen.
    Alles in ihm schrie nach Flucht. Er sollte den Wagen nehmen und verschwinden. Aber wohin? Wenn sie ihn jetzt gefunden hatten, würden sie ihn auch wieder finden. Und außerdem: Konnte er nochmal von vorn anfangen? Schon wieder? Es war ihm schwer genug gefallen, selbst als relativ junger Mann. Und das war schon eine Weile her. Noch einmal würde er es nicht schaffen.
    Angst schnürte ihm die Kehle zu.
    Und wenn er nur vergessen hatte, abzuschließen? Vielleicht war er einfach nachlässig gewesen. Was, wenn er jetzt sein Leben wegen nichts weiter als einer dummen Unachtsamkeit wegwarf?
    Er schüttelte den Kopf. Er machte sich noch verrückt. Er musste keine Angst mehr haben.
    Ach ja? Und wieso trägst du dann immer noch diese Kette um den Hals?
    Nervös tastete er unter seinem Hemdkragen danach. Er trug sie schon so lange, dass er sie kaum noch wahrnahm.
    Wenn du dir so sicher bist, dass niemand im Haus ist … wieso nimmst du sie dann nicht ab?
    Dr. Dietrich entschied sich für eine Kompromisslösung. Er ließ die Kette, wo sie war. Aber weglaufen würde er nicht. Er atmete tief und lehnte sich gegen die schwere Tür. Sie knarrte. Das war ihm vorher noch nie aufgefallen. Allerdings hatte er auch noch nie zwei Minuten in Todesangst auf der Veranda gestanden.
    Er trat ein. Die Sohle seines Schuhs quietschte auf dem Boden. Er tastete sich an der Wand entlang und machte Licht. Als Dietrich den hageren Mann vor sich sah, blieb ihm fast das Herz stehen. Er war schon fast wieder draußen, als er merkte, dass er nur sich selbst im Garderobenspiegel gesehen hatte.
    Er lachte laut auf, aber es klang hohl und zittrig. Er kam zurück, schloss die Tür und schob eilig den Riegel vor.
    «Hallo?», sagte er zögerlich. «Ist da jemand? Die Polizei ist schon unterwegs. Verschwinden Sie lieber!»
    Er lauschte, hörte aber nur sein flaches Atmen und den Regen, der draußen an die Scheiben trommelte. Langsam wurde er paranoid. Wenn da jemand wäre, hätte der doch längst irgendetwas unternommen, oder?
    Vielleicht. Vielleicht auch nicht.
    Langsam schlich er durch das kleine Farmhaus, das er bewohnte. Weil er nicht wagte, seine nassen Schuhe auszuziehen, zog er eine Spur durch alle Räume. Als er alles abgesucht hatte, entfuhr ihm ein langer Seufzer der Erleichterung. Er war allein. Dr. Dietrich kehrte in die Diele zurück, um seinen Mantel aufzuhängen.
    Als er die Schranktür öffnete, war es, als würde er von einem Zug überrollt. Sein Schrei erstarb, als zwei Hände sich um seine Kehle schlossen. Er starrte in das vertraute Gesicht, das ihn seit Jahren in seinen Albträumen verfolgte.
    Er hoffte, dass es schnell gehen würde. Und dass man ihm die Augen ließ.



KAPITEL 1
28. DEZEMBER 2007 – 9:09 UHR (86 STUNDEN, 51 MINUTEN BIS ZUR NACHT DES JÜNGSTEN GERICHTS)
     
     
    Der blinde Mann saß reglos da, als betrachtete er etwas Bestimmtes. Seine dunkle Sonnenbrille verbarg die narbigen Augen. Er erinnerte sich noch sehr genau an das grelle Feuerwerk der Farben, das er vor sich gesehen hatte, als man ihm die Augäpfel aus den Höhlen riss, an den kreischenden Schmerz, als die spitzen Fingernägel …
    Laszlo zuckte zusammen.
    Er verdrängte die Erinnerung. Energisch fuhr er sich über die grauen Stoppeln am Kinn. Zumindest glaubte er, dass sie wohl grau waren. Auch wenn sie sich noch immer schwarz anfühlten. Aber was nützten einem Blinden schon die Farben?
    Nichts.
    Darian ist nicht blind.
    Er knirschte mit den Zähnen. Der bloße Gedanke an diese Frau machte ihn nervös. Der große Schäferhund zu seinen Füßen setzte sich auf, weil er die Spannung spürte.
    «Ist schon gut, mein Mädchen», flüsterte Laszlo und kraulte dem Hund die aufgestellten Ohren.
    Sascha hechelte vernehmlich, und Sabber tropfte auf den Holzfußboden des Cafes. Um sich zu beruhigen, sog der blinde Mann die Gerüche tief ein, die ihn umgaben. Frischgemahlene
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