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Hustvedt, Siri

Hustvedt, Siri

Titel: Hustvedt, Siri
Autoren: Der Sommer ohne Maenner
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mal wieder unterwegs zu einem Kongress.
Die neuronalen Korrelate des Bewusstseins! Es ist zum Kotzen!
    Warum bist
du immer so wütend? Wo ist dein Humor geblieben? Warum schreibst du unser Leben
um?
     
    Ich erinnere
Stücke, Teile,
    Einen Stuhl
ohne den Raum,
    Einen Satzfetzen,
einen Schrei, eine neblige Szene,
    Hippokampale
Anfälle,
    Die David Hume
heraufbeschwören,
    Sein Ich so
blass und schmal und geisterhaft
    Wie meins.
     
    Liebe Mom,
    ich denke jeden
Tag an Dich. Wie geht es Großmutter? Das Stück endet Anfang Juli, und dann komme
ich Dich besuchen, eine ganze Woche lang. Ich spiele die Muriel schrecklich gern.
Sie ist ein Naseweis — eine tolle Rolle und endlich eine Komödie! Es wurde enorm
viel gelacht. Ich habe Freddy gesagt, die Drehbücher seien furchtbar, aber er hat
mich trotzdem weiter zu Castings für so grässliche Filme über gefolterte und gekillte
Mädels geschickt. Igitt! Das Theater versucht Sponsoren zu finden, aber das ist
nicht leicht hier im Off-Off-Off-Land. Jason geht's gut, außer dass ihn mein Tagesablauf
nervt.
    Ich war mit
Dad Mittag essen, aber es lief nicht so gut. Mom, ich mache mir Deinetwegen große
Sorgen. Bist Du okay? Ich hab Dich so lieb. Ganz die Deinige, Daisy
     
    Ich schickte
der Meinigen eine beruhigende Antwort.
    Es war nicht
leicht, mit einem Mann wie deinem Vater verheiratet zu sein», sagte meine Mutter.
    «Ja», sagte
ich, «kann ich mir denken.»
    Meine Mutter
saß in einem Sessel, die Arme um die mageren Knie geschlungen. Im Stillen dachte
ich, dass sie vom Alter zwar geschrumpft, aber auch verdichtet worden war, als hätte
der Mangel an verbleibender Zeit die Wirkung gehabt, alles Fett abzubauen - körperlich
und geistig.
    «Golf, die
Juristerei, Kreuzworträtsel, Martinis.»
    «In der Reihenfolge?»,
fragte ich lächelnd.
    «Möglicherweise.»
Meine Mutter seufzte, streckte die Hand aus, um ein vertrocknetes Blatt von einer
Topfpflanze auf dem Tisch neben ihr abzuknipsen. «Ich hab's dir nie erzählt», sagte
sie, «aber als du noch ganz klein warst, hat sich dein Vater, glaube ich, in eine
andere verliebt.»
    Ich atmete
durch. «Er hatte eine Affäre?»
    Meine Mutter
schüttelte den Kopf. «Nein, ich glaube nicht, dass sie Sex hatten. Seine Rechtschaffenheit
war unbedingt, aber es gab dieses Gefühl.»
    «Hat er es
dir gesagt?»
    «Nein, ich
hab's erraten.»
    So verliefen
die Umwege des Ehelebens, zumindest zwischen meinen Eltern. Irgendeine direkte Konfrontation
hatte es äußerst selten gegeben. «Aber er gab es zu.»
    «Nein, er hat
es weder bestätigt noch geleugnet.» Meine Mutter presste die Lippen zusammen. «Weißt
du, er fand es sehr schwierig, über irgendetwas Schmerzliches mit mir zu sprechen.
Er sagte immer:
    Während sie
sprach, tauchte plötzlich ein geistiges Bild von meinem Vater in meinem Kopf auf.
Er saß mit dem Rücken zu mir und beobachtete still das Kaminfeuer, zu seinen Füßen
ein Rätselheft. Dann sah ich ihn in dem Krankenhausbett liegen, eine lange, skelettartige
Gestalt, unter Morphin, nicht mehr bei Bewusstsein. Ich erinnerte mich daran, dass
meine Mutter sein Gesicht berührte. Zuerst nur mit einem Finger, als zeichnete sie
seine Züge direkt auf seinem Körper nach, eine wortlose Skizze vom Antlitz ihres
Gatten. Aber dann drückte sie ihre Handflächen auf seine Stirn, Wangen, Augen, Nase
und Hals, drückte sein Fleisch fest, wie eine Blinde, die verzweifelt versucht,
sich ein Gesicht einzuprägen. Energisch und verhalten zugleich begann meine Mutter
darauf mit zusammengepressten Lippen und vor Dringlichkeit aufgerissenen Augen seine
Schultern, seine Arme und dann seinen Brustkorb zu packen. Ich wandte mich ab angesichts
dieses intimen Anspruchs an einen Menschen, dieser besitzergreifenden Manifestation
miteinander verbrachter Zeit, und verließ das Zimmer. Als ich zurückkam, war mein
Vater tot. Tot sah er jünger aus, glatt und unergründlich. Sie saß im Dunkeln, die
Hände im Schoß gefaltet. Schmale Lichtstreifen von den Jalousien zeichneten Striche
auf ihre Stirn und Wangen, und in diesem Augenblick empfand ich Ehrfurcht, nichts
als Ehrfurcht.
    Auf mein Schweigen
hin fuhr meine Mutter fort: «Ich erzähle dir das jetzt, weil ich mir manchmal gewünscht
habe, er hätte es gewagt, hätte sich an sie herangemacht. Er hätte natürlich mit
ihr durchbrennen können, andererseits hätte er der Sache überdrüssig werden können
...» Sie atmete hörbar aus, ein langer, bebender
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