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Hustvedt, Siri

Hustvedt, Siri

Titel: Hustvedt, Siri
Autoren: Der Sommer ohne Maenner
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auch die heitere Peg, die neben Daisy
sitzt, müssen meine Mutter verlassen, die dort steht und Zeugnis über ihre Freundin
ablegt. Wir verlassen sie, obwohl sie an jenem Tag glänzte und anschließend von
vielen herzlich dafür beglückwünscht wurde, etwas gesagt zu haben, was allgemein
als wahr galt, weil wohl bekannt ist, dass die Toten oft in Lügen eingewickelt
ins Grab steigen. Aber wir werden uns dort bei der Beerdigung verlassen, während
es jenseits der bleiverglasten Fenster in Strömen regnet, und wir wollen es einfach
geschehen lassen, genau so, wie es geschah, aber ohne es zu erwähnen.
    Zeit verwirrt
uns, nicht wahr? Physiker wissen, wie man mit ihr spielt, aber unsereins muss mit
einer rasenden Gegenwart auskommen, die zu einer ungewissen Vergangenheit wird,
und wie ungeordnet diese Vergangenheit in unseren Köpfen auch sein mag, wir bewegen
uns immer unaufhaltsam auf das Ende zu. Im Geist jedoch können wir, solange wir
noch lebendig sind und unser Gehirn noch die Verbindungen herstellt, von der Kindheit
ins mittlere Alter und zurück springen und aus jeder Zeit, die wir uns aussuchen,
etwas plündern, einen wohlschmeckenden Leckerbissen hier und einen sauren dort.
Es wird niemals mehr, wie es war, es sei denn in Gestalt einer späteren Inkarnation.
Was einst Zukunft war, ist jetzt Vergangenheit, aber in der Zeit des Schreibens
kommt die Vergangenheit als ein gegenwärtiger Augenblick zurück, ist das Hier und
Jetzt. Wieder einmal schreibe ich mich selbst anderswohin. Nichts kann das verhindern,
nicht wahr?
    Bea und ich
sind auf der Eisbahn drüben an der Lincoln School Schlittschuh gelaufen, warten
auf unseren Vater, der uns abholen soll, und sehen ihn in dem grünen Kombi kommen.
Auf dem Heimweg pfeift er «The Eerie Canal», und Bea und ich lächeln uns auf der
Rückbank an. Zu Hause liegt Mama auf dem Bett und liest ein französisches Buch.
Wir springen aufs Bett, und sie befühlt unsere Füße. Sie sind so kalt. Eis, sie sagt das Wort Eis. Dann zieht
sie unsere vier Socken aus, nimmt unsere vier Schlittschuhfüße und steckt sie unter
ihren Pullover auf die warme Haut ihres Bauchs. Das gefundene Paradies.
    Stefan sitzt
auf dem Sofa und gibt gestenreich seinen Standpunkt zum Besten. Ich sehe ihn an
und mache mir Sorgen. Er ist zu lebendig. Seine Gedanken preschen zu schnell vor,
und doch weiß ich damals nicht, was geschehen wird. Ich befinde mich in Unkenntnis
der Zukunft, und dieser Zustand, diese Wolke des Nichtwissens, ist nicht wiederherstellbar.
    Dr. E sagt
mir, ich solle pressen. Pressen Sie! Und ich presse mit aller Kraft, und später
entdecke ich dann, dass ich das ganze Gesicht voll geplatzter Äderchen habe, aber
was weiß ich damals darüber, nichts, und ich presse, und ich spüre ihren Kopf, und
dann rufen Stimmen, dass ihr Kopf aus mir herauskommt, und er kommt, und dann das
plötzliche Herausrutschen ihres Körpers aus meinem, ich/sie, zwei in einer, und
zwischen meinen offenen Beinen sehe ich eine rote, schleimige Fremde, mit einem
bisschen schwarzen Haar, meine Tochter. Ich erinnere mich überhaupt nicht an die
Nabelschnur, oder? Nicht an das Abtrennen. Boris ist da, und er weint. Ich vergieße
keine Träne. Er schon. Jetzt erinnere ich mich! Ich sagte ja, er hätte im wirklichen
Leben nie geheult, aber das stimmt nicht. Ich hatte es vergessen! Jetzt, in diesem
Augenblick, steht er weinend vor mir, nachdem seine Tochter geboren wurde.
    Ich betrete
die AIM Gallery, eine Frauenkooperative in Brooklyn, um an der Eröffnung einer Ausstellung
mit dem Titel Die heimlichen Vergnügungen teilzunehmen.
    Ich stehe neben
Boris in unserer Wohnung am Tompkins Place. Willst du ihn als deinen Ehemann annehmen, ihn lieben, achten und ehren, in
Gesundheit und Krankheit, in guten wie in schlechten Zeiten, bis dass der Tod euch
scheidet?
    Willst du?
Heraus mit der Sprache, du rothaariger Hohlkopf. Das war damals. Ich sagte: Ja. Ich sagte: Ich will. Ich sagte etwas
Zustimmendes.
    Meine Mutter
ist neunzig geworden, und wir feiern in Bonden. Sie hat Probleme mit den Knien,
aber sie ist hellwach und benutzt keinen Rollator. Peg ist da, und meine Mutter
stellt mir Irene vor. Ich habe in letzter Zeit am Telefon viel von Irene gehört
und schüttle ihre Hand mit Nachdruck, um meine Begeisterung zu zeigen. Sie ist fünfundneunzig.
«Ihre Mutter und ich haben oft viel Spaß miteinander.»
    Mama Mia schreibt
Gedichte am Küchentisch. Klein Daisy regt sich in ihrem Kinderbett.
    Jetzt liegt
Mia im Krankenhaus,
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