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Hustvedt, Siri

Hustvedt, Siri

Titel: Hustvedt, Siri
Autoren: Der Sommer ohne Maenner
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obwohl ich mich nur an Bruchstücke dessen erinnere, worüber
wir sprachen, weiß ich noch genau, wie belebt die Miene meiner Mutter war, als sie
Daisys Geschichten über das Theater und Muriel und ihre Nächte auf den Spuren ihres
Vaters lauschte und dass er seinen «Schatten» erst entdeckte, als sie ihn vor dem
Roosevelt Hotel mit den Worten konfrontierte: «Was, zum Teufel, geht hier eigentlich
vor, Dad?» Und ich erinnere mich, dass meine Mutter Neuigkeiten von Regina hatte.
Sie war von einer ihrer Töchter gerettet worden. Letty war gekommen und hatte alles
organisiert, um ihre Mutter nach Cincinnati zu holen, wo es ganz in der Nähe von
ihr und ihrer Familie ein «Heim» gab. Meine Mutter gestand, nicht zu wissen, wie
das alles gehen sollte, aber es war auf jeden Fall der «schrecklichen Gefängniszelle»
in der Alzheimerstation vorzuziehen.
    Gleich am nächsten
Tag erfuhren wir, dass Abigail einen schweren Schlaganfall erlitten hatte. Sie lebte,
aber die Frau, die wir gekannt hatten, war verschwunden. Sie wusste weder, wo noch
wer sie war. Der Wecker hatte geklingelt. Die Greise ermatten und sterben. Das wissen
wir, aber die Greise wissen es weitaus besser als wir. Sie leben in einer Welt
ständigen Verlustes, und das, wie meine Mutter schon festgestellt hatte, ist bitter.
    Ich sah sie
zwei Tage später ein paar Minuten auf der Pflegestation. Meine Mutter hatte nicht
mitkommen wollen. Ich verstand, warum; das Gespenst des Verlustes aller Fähigkeiten,
die das Leben zum Leben machen, war ihr zu nahe. Abigail lag auf der Seite, wegen
ihrer verkrümmten Wirbelsäule mit dem Kopf in der Nähe der Knie, sodass sie das
Bett kaum ausfüllte. Hin und wieder gingen ihre Augen zuckend auf, aber Iris und
Pupille waren gedankenleer, und beim Atmen krächzte sie laut. Das dünne graue Haar
meiner Freundin sah etwas fettig und ungekämmt aus, und sie trug ein geblümtes Krankenhaushemd,
das sie gehasst haben würde. Ich strich ihr das Haar zurück. Ich redete mit ihr,
sagte ihr, dass ich mich an alles erinnerte, dass ich, wenn die Zeit gekommen sei,
das Testament aus der Schublade holen und alles Menschenmögliche unternehmen würde,
um die heimlichen Vergnügungen irgendwo in einer Galerie unterzubringen. Und bevor
ich ging, beugte ich mich zu ihr hinunter und sang ihr ganz leise ein Schlaflied
ins Ohr, nicht eines von Brahms, ein anderes, so wie ich es immer für Daisy getan
hatte. Eine Krankenschwester erschreckte mich, als sie hinter mir hereinkam, und
ich wich abrupt und verlegen zurück, aber sie war fröhlich, sachlich und sagte,
ich könne ruhig bleiben, doch irgendwie konnte ich dann nicht mehr. Zwei Tage später
war Abigail tot, und ich war froh.
    Ich schrieb
Niemand von ihr, von ihren Werken und von ihrer lang verflossenen Liebesgeschichte.
Ich weiß nicht, warum ich ihm das erzählte. Vielleicht wollte ich eine Antwort von
einiger Erhabenheit. Ich bekam sie.
     
    Manchen von
uns ist es bestimmt, in einer Schachtel zu leben, aus der es nur eine zeitweilige
Freilassung gibt. Wir mit den beschädigten Lebensgeistern, den vereitelten Gefühlen,
dem blockierten Herzen und den aufgestauten Gedanken, wir, die wir uns danach sehnen,
auszubrechen, in einer Flut von Wut, Freude oder gar Wahnsinn überzuströmen, doch
gibt es für uns kein Wohin, nirgendwo auf der Welt, weil niemand uns so haben will,
wie wir sind, und wir können nichts tun, als uns die heimlichen Freuden unserer
Sublimierungen zu eigen zu machen, den Bogen eines Satzes, den Kuss eines Reims,
das Bild, das auf Papier oder Leinwand entsteht, die innere Kantate, die klösterliche
Stickerei, die dunkle, träumerische Nadelarbeit aus der Hölle, dem Himmel oder dem
Fegefeuer oder aus keinem der drei, doch es muss einigen Schall und Wahn von uns
geben, einige Zimbelschläge in der Leere. Wer würde uns die bloße Pantomime einer
Raserei verweigern? Wir, die Schauspieler, die auf einer von niemandem beachteten
Bühne auf und ab schreiten, mit wogendem Busen und fliegenden Fäusten? Deine Freundin
war eine von uns, den nie Gesalbten, Unerwählten, vom Leben, vom Sex Missgebildeten,
vom Schicksal verflucht, aber insgeheim rastlos tätig, dort, wohin sich nur die
Happy Few wagen, jahrelang emsig nähend, ihr Herzeleid, ihre Bosheit und ihren Groll
einnähend, und warum nicht? Warum? Warum nicht? Warum? Warum nicht?
     
    Trotz all seiner
Trostlosigkeit erreichte er, dass ich mich besser fühlte, seltsam besser. Warum?
Obwohl ich mich zum ersten Mal fragte, ob Mr.
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