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Hustvedt, Siri

Hustvedt, Siri

Titel: Hustvedt, Siri
Autoren: Der Sommer ohne Maenner
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Gemütsstörung,
nicht du.» Der Trick, die Ich-Perspektive zu tauschen, hatte sein Ziel erreicht.
Ashley, so schien es, hatte das Spiel schon vorher gespielt.
     
    Ich werde im
Kühlschrank nachsehen, ob genug Saft und Milch da ist, und wenn es nicht reicht,
daran denken, welche zu kaufen.
    Ich werde versprechen, Middlemarch von A bis Z zu lesen. (Dasselbe gilt
für Die goldene Schale.)
    Ich werde Dich
nicht beim Schreiben unterbrechen.
    Ich werde mehr
mit Dir reden.
    Ich werde lernen,
etwas anderes zu kochen als Eier.
    Ich werde Dich
lieben.
    Boris
     
    Ich las die
Liste mehrmals durch. Ehrlich gesagt, nahm ich ihm die ersten fünf Punkte nicht
ab. Dazu wäre eine Revolution nötig gewesen, an die ich aufgehört hatte zu glauben.
Meine Welt drehte sich um Punkt sechs, denn, wissen Sie, Boris hatte mich ja geliebt.
Er hatte mich lange geliebt, und die Frage war nicht so sehr, ob er es ernst meinte
- ich glaubte, das tat er -, sondern ob da nicht Selbsttäuschung am Werk war. Konnte
er dieses zündende Intermezzo wirklich vergessen, oder würde uns das pausale Gespenst
bis ans Ende unserer Tage begleiten? Schlimmer noch: Wenn Boris einmal zur Tür hinausspaziert
war, was sollte ihn abhalten, es wieder zu tun? Genau das fragte ich ihn in meiner
Antwort.
    Regina kehrte
nach Rolling Meadows zurück, aber nicht ins betreute Wohnen. Sie wurde in einer
Spezialabteilung für Alzheimerpatienten auf der anderen Seite des Geländes untergebracht,
obwohl die Krankheit bei ihr gar nicht diagnostiziert worden war. Nach dem «Zwischenfall»
hatten die (zumeist wohlwollenden, aber keineswegs endlos toleranten) Machthaber
entschieden, ihr sei nicht zu trauen. Sie müsse beobachtet werden. Meine Mutter
und ich fanden sie in einem kahlen kleinen Zimmer — fast identisch mit meinem Krankenhauszimmer
in der Psychiatrie, bloß ohne Blick auf den East River - auf einem trostlosen Gitterbett
mit blauer Tagesdecke. Ihr schönes, langes weißes Haar war zerzaust und hing ihr
ins Gesicht. Als meine Mutter zur Tür hereinkam, rief Regina laut «Laura!» und streckte
die Arme nach ihrer Freundin aus. Die beiden umarmten sich und wiegten sich so mindestens
eine Minute lang vor und zurück. Als sie einander wieder losließen, sah Regina mich
an, als suche sie etwas, und mir wurde klar, dass der gefallene Schwan meinen Namen
und womöglich die Tatsache meiner gesamten Existenz vergessen hatte, aber meine
Mutter rettete ihre Kameradin, indem sie mich identifizierte, sobald sie begriff,
dass ich in Reginas mentalem Lagerhaus fehlte.
    Die beiden
Frauen redeten, aber Regina redete mehr. Sie schnatterte über ihr Martyrium - die
Tests, den netten Doktor und den fiesen, die endlosen Fragen nach Präsidenten und
dem laufenden Monat und ob sie diesen Nadelstich spüre und so weiter. Dann brach
sie zusammen und heulte, erholte sich aber schnell wieder und begann nostalgisch
zu schwärmen. War es nicht wunderbar gewesen, auf der anderen Seite, im betreuten
Wohnen? Sie hatte ihre eigene Wohnung dort mit all ihren «hübschen Dingen», und
sie waren nur eine kurze Wegstrecke voneinander entfernt gewesen, und, ach, du
meine Güte, die Grünlilie, hatte jemand die gegossen? Und jetzt seht sie euch an,
im Exil bei den «Verrückten» und den Leuten, die «sabberten und pinkelten und in
die Hose machten». Wenn sie nur wieder auf die andere Seite zurückkönnte. Ich sah
meine Mutter den Mund öffnen und wieder schließen. Wenn Regina sich an das verhasste
«Heim» als Paradies erinnern wollte, hatte sie kein Recht, ihr diese Illusion zu
zerstören. Als wir gingen, hob die alte Frau den Kopf, warf ihre unordentlichen
Locken zurück und strahlte. Sie warf uns Kusshändchen zu und sang mit hoher Zitterstimme:
«Komm wieder, Laura. Kommst du? Ich hab dich schrecklich vermisst. Vergiss nicht,
wiederzukommen.»
    Kurz bevor
ich die Tür schloss, warf ich einen letzten Blick auf Regina. Sie schien in sich
zusammenzufallen, als hätte der theatralische Abschied ihr alle Luft genommen.
    Draußen im
Gang blieb meine Mutter stehen. Sie presste die Hände an die Brust, schloss die
Augen und murmelte: «Es ist so bitter.»
    «Was denn,
Mama?»
    «Das Alter.»
    Die Seifenoper
mit Lola, Pete, Flora und Simon war, wie Lola selbst eingeräumt hatte, eine Wiederholungssendung
ohne große Abwechslung gewesen, doch nun verschworen sich die Umstände, um für Abwechslung
zu sorgen, und die Abwechslung war Geld. Sosehr ich meine Chrysler Buildings mochte
und Lola Zeit gewidmet hatte,
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