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Hustvedt, Siri

Hustvedt, Siri

Titel: Hustvedt, Siri
Autoren: Der Sommer ohne Maenner
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fühlten sich nicht größer an als Hühnerknochen - meine Abigail, die nicht
mehr aufrecht sitzen konnte, die das Zittern hatte und einst im Jahre 1938 in New
York ein Mädchen namens Laura geliebt hatte, eine bemerkenswerte Frau, Kunstlehrerin
für Kinder und Künstlerin. Eine Künstlerin, die ihre Bibel kannte. Das Letzte, was
sie zu mir sagte, war: «Er wird herabfahren wie der Regen auf die Aue, wie die Tropfen,
die das Land feuchten.» Psalm 72,6.
    Der andere
zu sein bringt die Phantasie zum Tanzen. Ohne das sind wir nichts. Schreis heraus!
Schüttle dich, stampf mit den Hacken auf und spring. Das war meine Pädagogik, meine
Philosophie, mein Credo, mein Slogan, und die Mädchen strengten sich an, das muss
ich ihnen lassen. Ihre «Ichs» waren kräftig aufgemischt worden, und sie arbeiteten
daran, den Sinn zu finden, der sich aus einer anderen Rolle, einem anderen Körper,
einer anderen Familie, einem anderen Ort ergibt. Mit unterschiedlichem Erfolg,
aber das war zu erwarten gewesen.
    Jessie schrieb
als Mia: «Ich hatte so ein Gefühl, dass die Mädchen Probleme hatten, aber sie haben
mir nichts gesagt. Ich erinnerte mich daran, wie ich in die siebte Klasse ging und
mir diese doofen Sachen passierten, aber das ist lange, lange, lange her ...» (Dagegen
war nichts einzuwenden.)
    Peyton schrieb
als Joan: «Ich bin seit der ersten Klasse Nikkis beste Freundin, und ich tue so
ungefähr alles, was sie tut. Als ich gesehen habe, dass sie keine Angst hatte, sich
zu schneiden, beschloss ich, ich tue es auch, obwohl ich es ziemlich eklig fand.»
    Joan als Peyton:
«Ich will cool sein, aber ich bin unreif. Ich treibe lieber Sport und habe bei den
Gemeinheiten gegen Alice mitgemacht, weil ich eben cool sein wollte.»
    Nikki als Emma:
«Ich schleime mich bei Ashley ein, weil ich glaube, dass ich mich durch sie besser
fühle, und es Spaß macht, mit ihr zusammen zu sein, weil es ihr nichts ausmacht,
Ärger zu kriegen. Als sie beschloss, ich soll dieses Stück Schwanz von der toten
Maus runterschlucken, habe ich's getan, obwohl es widerlich war. Ich bin irgendwie
ihre Sklavin. Sie fordert Leute heraus, und ich lass mich gern drauf ein. Meine
kleine Schwester hat Muskelschwund, das setzt mir ziemlich zu, und mit meinen Freundinnen
zusammen zu sein und dummes Zeug zu machen hilft mir, nicht daran zu denken.»
    Emma als Nikki:
«Ich spiele mich gerne auf und haue auf den Putz, trage gern schwarze Klamotten
und dazu ein irres Make-up, das meine Mom aufregt. Gemein zu Alice zu sein war auch
eine Art, mich aufzuspielen.»
    Ashley schrieb:
«Ich bin Alice, Miss Perfect. Ich mag Chicago, weil es eine Großstadt mit haufenweise
Geschäften und Museen ist, und meine Mom hat mich da immer zu diesen KUNSTereignissen
begleitet, und jetzt können wir nicht mehr hin. Ich war mal Ashleys Freundin, aber
ich glaube, ich bin zu kultiviert für sie. Ich bin ein Einzelkind, und meine Eltern
verwöhnen mich, kaufen mir teure Kleider und schicken mich nach St. Paul ins Ballett.
Ich benutze Wörter, die die anderen Kinder nicht verstehen, nur damit sie sich dumm
fühlen. Ich bin so moralisch, dass ich nicht weiß, wie man Spaß haben kann, und
ich sehe ganz gekränkt und weinerlich aus, wenn jemand die winzigste Kleinigkeit
sagt. Wäre ich nicht so ein Waschlappen gewesen, hätten die Mädels mir gar nichts
anhaben können.»
    Alice schrieb:
«Ich hasse Alice, weil sie in dem Stück die Charlene gespielt hat. Das hat mich
vor Neid ganz krank gemacht. Sie hat meine Hinterlist nicht erkannt, und das machte
es so einfach, ich hatte leichtes Spiel, konnte so tun, als würde ich sie mögen,
ihr aber hinter ihrem Rücken richtig weh tun. Meine Geschwister treten und schlagen
sich dauernd und knallen die Türen, mein Zuhause ist ein einziges Chaos, und ich
muss Pillen gegen eine Gemütsstörung nehmen, und meine Mom schreit mich dauernd
an, weil ich sie nicht nehme ...»
    Schuldzuweisungen,
Dementis und tiefe Seufzer unterbrachen immer wieder den Fluss der Stunde. Aber
dass Ashley Alice ihre eigene Störung untergeschoben hatte, wie immer die nun geartet
sein mochte, war bei weitem die beunruhigendste Enthüllung gewesen. Weder Alice
noch Ashley waren fähig, sich in die Psyche der jeweils anderen einzufühlen oder
irgendeine wechselseitige Sympathie zu empfinden, doch als Alice, ob bewusst oder
unbewusst, Ashleys Geheimnis ausgeplaudert hatte, waren alle Mädchen still gewesen,
bis Peyton schrie: «Ashley, du hast doch behauptet, Alice hätte eine
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