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Die Adler von Lübeck: Historischer Roman

Die Adler von Lübeck: Historischer Roman

Titel: Die Adler von Lübeck: Historischer Roman
Autoren: Norbert Klugmann
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    Der Sand reichte bis zum Horizont. Er war extrem fein. Wenn man ihn packte, fühlte er sich an wie Mehl. Bei jedem Schritt sanken die Füße bis über den Knöchel ein. Nach 20 Schritten wurde die Fortbewegung zu harter Arbeit, 100 Schritte später tat jeder Schritt weh. Noch schlimmer dran waren die Männer, die Lasten trugen, Kisten oder Fässer. Sie hatten sich Untersätze zurechtgezimmert, auf denen sie die schweren und sperrigen Gegenstände stapelten. Die Schlitten sanken tief ein, man brauchte zwei Männer, besser waren vier, um sie aus dem Sand zu ziehen, um sie einige Schritte zu bewegen, bevor die Träger die Kraft verließ.
    Wenn der Hunger kam und sie eine Rast einlegten, waren sie kaum mehr als 500 Schritte vorangekommen. Der Kapitän ging von Mann zu Mann und sprach jedem gut zu. Mit gesenktem Kopf hockten sie im Sand, langsam bewegten sich die Kiefer, manchmal spuckten sie aus, der Sand war überall.
    Wenn der Kapitän seine Runde beendet hatte, brauchte er selbst Trost und Zuspruch. Dann schleppte er sich zu dem Mann mit dem Federschmuck. Ein Kapitän suchte keinen Trost außer bei einer Flasche Rum oder einem Fässchen mit rotem Wein. Bestenfalls durfte ihn die Hure trösten, oder der schmächtige Schiffsjunge mit der Gestalt eines Mädchens konnte zeigen, dass er zu mehr imstande war, als Schüsseln fallen zu lassen und Essen zu versalzen. Aber in keinem Fall ließ ein Kapitän erkennen, dass er überfordert war. Ein einziger Moment der Schwäche und niemand würde ihn mehr ernst nehmen.
    Nur bei dem Mann mit dem Federschmuck galt das nicht. Wer sich ihm anvertraute, vergab sich nichts. Der mit der Feder stand so himmelhoch über allen anderen, dass die Regeln, die für alle galten, auf ihn nicht zutrafen. Der Mann mit dem Federschmuck strahlte etwas aus, was man außerhalb von Schlössern, Gotteshäusern und Gelehrtenstuben nicht antraf. Er war kein Hexenmeister und kannte sich doch aus in Eingeweiden, Kräutern und dem Stand der Gestirne; war kein General, kein Beichtvater, keine Hebamme, kein weiser Greis und kein Staatsmann, der Frieden zwischen den Völkern stiftete. Er war ein Teil von allem und jedem. Er strafte nicht, verbot nicht, drohte nicht und folterte nicht. Für ihn war ein Mann immer ein Mann, auch wenn er vor Angst weinte und sich vor Verzweiflung in die Hosen schiss. Er hatte Arme amputiert, wenn der Barbier geflohen war, hatte Kindermördern den Kopf vom Hals getrennt und die Wette gegen den stärksten Mann des Landes gewonnen, als er 14 Morgen Land umgegraben hatte, ohne einmal abzusetzen. Er hatte Frauen Geld gegeben, damit sie ihren Kindern Milch kaufen konnten, und Jünglingen Geld für die Kutschfahrt nach Prag, wo sie sich ein Studium leisten konnten, weil er sie auch dafür ausgestattet hatte.
    Der Mann mit dem Federschmuck hatte Branntwein-Gelage überstanden, nach denen zwei Männer nicht mehr aufgewacht und andere erblindet waren, er hatte im Lauf einer Orgie acht Kinder gezeugt, von denen fünf noch lebten, hatte mit einem wütenden Keiler gerungen, mit nacktem Oberkörper und ohne Waffe. Er hatte ein Bootsrennen gegen den besten Skipper des Nordens gewonnen und er hatte den gusseisernen Topf in der Fluchbüchse leer gegessen, obwohl ihn das fast das Leben gekostet hatte und er ohne die Kenntnisse der Hebamme Trine Deichmann an durchgebrochenem Magen gestorben wäre. Er hatte sich mit so vielen Männern geprügelt, dass niemand die genaue Zahl kannte, und dabei nicht mehr als vier Zähne und den kleinen Finger der linken Hand eingebüßt. Er hatte im Dom die Predigt zur Walpurgisnacht gehalten – nachts um zwei vor allen Saufkumpanen, die er im Lauf der Nacht um sich gesammelt hatte. Wie überhaupt seine Zechgelage Tagesgespräch gewesen waren – nicht zuletzt, weil seine Frau an ihnen teilgenommen hatte, worauf er stolz war.
    Mit einem Seufzer ließ der Kapitän seinen Kopf gegen die Schulter des Mannes mit dem Federschmuck sinken. Eine Hand klopfte beruhigend auf den Rücken des Kapitäns.
    »Wir schaffen das«, sagte der Mann, dem alle vertrauten. »Wir dürfen nicht ungeduldig werden.«
    »Aber der Sand, der viele Sand   …«
    »Du glaubst, weil du nur Sand siehst, gibt es nur Sand. Aber es gibt eine Welt hinter dem Sand. Dorthin müssen wir gelangen, dort warten sie auf unsere Waren.«
    »Habt Ihr nicht manchmal das Gefühl, dass wir schon jahrelang im Sand unterwegs sind?«
    Der Mann mit dem Federschmuck lächelte. Sein Blick ging zum Himmel, wo es nicht
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