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Der Seelenleser

Der Seelenleser

Titel: Der Seelenleser
Autoren: Harper Paul
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Kapitel 1
    Sie waren zu einem späten Abendessen im Crete.
    Der androgyne Chinese trug einen Smoking ohne Krawatte, sein Schnurrbart war präzise gestutzt und sein pechschwarzes Haar zu einem Bob geschnitten. Der andere Mann war mit seinem karamellfarbenen Haar, seinen blaugrauen Augen und seinem prägnanten Unterkiefer bemerkenswert gut aussehend. Er trug ein schokoladenfarbenes Sakko zu mokkafarbenen Seidenhosen aus Mailand, und eine Aura aus gelassenem Selbstbewusstsein umgab ihn.
    Sie saßen an einem Ecktisch nicht weit von der Bar aus weißem Marmor entfernt und hatten mit Miso glasierten Loup de Mer und Kokos-Mojitos gehabt. Das Restaurant war mit hippen Szenegängern aus dem Castro-Viertel gefüllt, die sich im dunkelvioletten Licht badeten, das von den rosa getönten Spiegeln und Fenstern reflektiert wurde. Die Masse war urban, cool und très chic.
    Der Chinese war sehr angeregt und mitteilsam, er bestritt den Großteil der Unterhaltung. Der Weiße hatte sich locker zurückgelehnt, ohne aber seinen Begleiter aus den Augen zu lassen, als würde ihn dessen Auftritt wirklich amüsieren.
    Sie verließen das Crete erst zur Sperrstunde.
    Ihr in einer Seitenstraße des Castro-Viertels gelegenes Hotel sah aus wie ein heruntergekommenes Filmset. Von ihrem Fenster aus konnten sie zum Le Mesonge hinüberschauen, einem Club, dessen Bässe man noch auf der anderen Straßenseite spüren konnte.
    Sie schlossen die Tür ab, und während der Weiße zum Fenster ging und hinausschaute, zog der Chinese erst die Überdecke und dann das obere Laken des Betts ab und warf beides in die Ecke. Als er sich umdrehte, stand der Weiße direkt vor ihm. Er überragte ihn um einen Kopf. Während der Chinese sich ganz still verhielt, begann der andere Mann, ihn auszuziehen.
    Was nun folgte, glich einer perfekten Choreographie, auch wenn sie die Einzelheiten nicht vorher geprobt hatten. Den ungefähren Ablauf hatte der Weiße vorher bestimmt, und der Chinese, der von dem, was er hörte, überrascht gewesen war, hatte mutig zugestimmt. Das vorgeschlagene Szenario war ein weiteres Beispiel dafür, dass der Weiße anscheinend außergewöhnliche Einblicke in die verborgene Natur des Chinesen hatte. Wie weit konnte er die Fantasien erahnen, die der Chinese so verführerisch fand?
    Zu weit.
    Er warf den Smoking zur Seite, und sie standen sich am Fußende des Bettes gegenüber. Der Weiße zog sorgfältig die eine Seite des Schnurrbarts des nackten Chinesen ab, nur die eine Seite. Sein Gegenüber stand bloß da, absichtlich ungeschützt, mit einem flatternden Gefühl im Bauch.
    Der Sex war extravagant, bis an die Grenze des Bizarren. Er war intensiv und unvergleichlich– alles genau so, wie sie sich das vorgestellt hatte.
    Er schlief hinterher sofort ein, als ob sie ihm ein Mittel in seinen letzten Drink getan hätte. Sie lag ohne Decke auf dem Bettlaken, ausgestreckt und nackt wie eine Leiche, und es war in diesem Moment, dass sie anfing, Angst zu bekommen.
    In ihren Gedanken ging sie die ganze Sarabande noch einmal durch, die sie gemeinsam getanzt hatten, Schritt für Schritt. Es war wirklich alles so gewesen, wie sie es sich vorgestellt hatte, und genau das jagte ihr solch einen Heidenschreck ein. Es war nervenaufreibend, darüber nachzudenken, zumal offenbar ihr Gehirn nicht mehr der einzige Ort ihrer Fantasien war. Ihre sexuellen Fantasien waren genau das: ihre privaten sexuellen Fantasien, und dennoch war es diesem Mann gelungen, eines dieser Szenarien mit so präziser Genauigkeit zu reproduzieren, dass es nur noch als teuflisch bezeichnet werden konnte.
    Das Drehbuch in ihrem Kopf war an und für sich nicht beängstigend gewesen, doch jetzt, wo es aus der Vorstellungskraft eines anderen kam, machte es ihr Angst. Dass ihr kalt war, lag nicht an den Nächten im Castro, sondern an dem Verstand neben ihr.
    Schon als die Affäre begonnen hatte, hatte sie es nicht sehr ernst genommen, aber leidenschaftlich begrüßt. Das sexuelle Abenteuer, das Herumtänzeln an den abgründigen Rändern des Anstands, die sich entwickelnde besondere Beziehung, der herbe Geruch der Gefahr: All das war wie ein Rausch, den sie dringend benötigte, um dem Zusammenbruch ihres emotionalen Lebens zu entkommen. Doch in letzter Zeit beunruhigte das gemeinsame ungewöhnliche Geheimnis sie zunehmend, es wurde immer verrückter. Es machte sie wahnsinnig.
    Was heute Nacht geschehen war, war zu viel. Sie konnte so nicht weitermachen. Es war ihr egal, wie gut aussehend er war, und
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