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Der Seelenleser

Der Seelenleser

Titel: Der Seelenleser
Autoren: Harper Paul
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Shen ist ein alter Freund von mir«, sagte er und hängte seinen Regenmantel auf. » Ich habe mich gefreut, mal wieder von ihm zu hören.«
    Er folgte ihr zu der Sitzgruppe vor den zwei Fenstern, die an der Vorderseite des Hotels zur Straße hinaus gingen. Er wartete, bis sie sich gesetzt hatte, und nahm dann den Stuhl, der ihr gegenüber auf der anderen Seite eines Tischchens stand, dessen elliptische Glasplatte auf drei Art-déco-Aktskulpturen ruhte.
    Vera saß leicht vorgebeugt in ihrem Lehnstuhl, den Rücken gerade und die Beine an den Knöcheln überkreuzt. Sie trug ein schmales perlgraues Strickkleid mit Dreiviertelärmeln, das ihre grazile Figur betonte.
    » Herr Moretti sagte, dass Sie bei der Polizei in der gleichen Abteilung waren und zusammengearbeitet haben«, sagte sie.
    » Das stimmt, im Geheimdienst«, bestätigte Fane. » Ich war erst in der Mordkommission, dann lernte ich Shen kennen, und er überzeugte mich, in den Geheimdienst zu kommen. Ich habe dort mit ihm fast ein Dutzend Jahre gedient– bis er in den Ruhestand gegangen ist.«
    » Er hat Sie in höchsten Tönen gelobt«, sagte sie. Obwohl sie sich unwohl fühlte, gab sie sich große Mühe, dies nicht zu sehr durch ihre Körpersprache erkennen zu lassen.
    » Ich habe ihn über seine Schwester kennengelernt«, fuhr sie fort. » Wir waren Nachbarn. Als ich mich dazu durchgerungen hatte,… etwas zu tun, war er der Einzige, der mir einfiel, den ich um Rat fragen könnte. Aber als ich ihm erklärte, dass ich ein Problem habe, in das auch zwei meiner Klienten verwickelt sind, dass Diskretion äußerst wichtig ist und ich keine Polizei und keine Privatdetektive einschalten will, unterbrach er mich. Er sagte, dass er gar nicht mehr wissen wolle, und nannte Ihren Namen.«
    » Gut«, sagte Fane und schlug die langen Beine übereinander.
    Es gab einen kurzen unangenehmen Moment der Stille.
    » Er sagte, dass Sie… den Ruf hätten– zumindest bei denjenigen, die es wissen müssen–, der Mann zu sein, an den man sich wendet, wenn man ein Problem und keinerlei andere Optionen mehr hat. Er sagte auch«, fügte sie hinzu, » dass ich Ihnen vertrauen könnte. Absolut vertrauen könnte.«
    Ihre letzte Bemerkung überraschte ihn. Magisches Denken, Wunschdenken. Sie hatte es gesagt wie eine Beschwörung.
    Fane wartete.
    » Sie wissen sicher«, fuhr sie fort, » dass schon allein die Tatsache, dass ich Ihnen dies hier erzähle, mich nahe davor bringt, die Vertraulichkeitsvereinbarungen, die ich mit meinen Klienten getroffen habe, zu brechen. Meine Klienten müssen sich sicher sein können, dass sie mir gegenüber alles sagen können und dass sonst niemand davon erfährt. Absolutes Vertrauen ist die Grundlage der Psychoanalyse.«
    » Das habe ich verstanden«, sagte Fane.
    » Und ich muss nun eben dieses Vertrauen auch in Sie legen. Ich vertraue Herrn Morettis Empfehlung, aber ich habe ihm nichts von dem erzählt, was ich Ihnen sagen werde. Er ist nicht derjenige, mit dem zusammen ich über die Klippe springen muss.«
    Die Wahl ihrer Metaphern war interessant. » Verzweifelt« war in Vera Lists Fall keine Übertreibung.
    » Sehen Sie«, sagte sie. » Ich weiß noch nicht einmal, was genau Sie eigentlich machen. Herr Moretti empfahl mir, mit Ihnen zu reden, aber er sagte nicht, warum. Natürlich hat er damit andeuten wollen, dass Sie mir helfen können. Aber ehrlich gesagt, war er alles in allem etwas kryptisch.«
    Sie machte eine kurze Pause. Dann sagte sie: » Sie verstehen, dass ich nichts Illegales will. Das ist Ihnen… ja wahrscheinlich klar.« Sie neigte leicht den Kopf und zog die Augenbrauen hoch, um anzuzeigen, dass sie eine Antwort erwartete.
    Er nickte. Sie entspannte sich ein wenig.
    » Ich muss wissen, mit wem und womit ich es hier zu tun habe, bevor ich mich darauf einlassen kann.«
    » Das ist verständlich«, nickte Fane. In diesem Punkt hatte sie recht. Die Leute, die ihn in den letzten Jahren aufgesucht hatten, kannten sich bereits in seiner Welt aus, hatten sie doch selbst am Rand dieser Welt gelebt, in diesem unbeständigen, fragilen Bereich, wo ein Halbschatten der Unbestimmtheit über allem lag.
    Vera List jedoch kam trotz ihres Berufs aus der Alltagswelt, in der Mehrdeutigkeit grundsätzlich unerwünscht war und nur für Theorien und Diskussionen diente. Zumindest hatte das bis jetzt für sie gegolten.
    » Vor vier Jahren«, begann Fane, » war ich in eine Kontroverse innerhalb des Geheimdienstes verwickelt, in dessen Folge ich mich
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