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Hustvedt, Siri

Hustvedt, Siri

Titel: Hustvedt, Siri
Autoren: Der Sommer ohne Maenner
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Niemand nicht ebenso gut Mrs. Niemand
sein könnte. Wer weiß? Ich war mir nicht mehr so sicher, dass er Leonard war. Aber
ich merkte, dass es mir gleichgültig wurde. Er oder sie war meine Stimme aus Nimmerland,
aus Nimmermehr, aus Warum, nicht Wo, und es gefiel mir so.
     
    W enn ich je
wieder etwas wirklich Dummes mache, nagle mich an die Wand.
    Dein Boris
     
    Daisy stand
hinter mir, als ich diese Nachricht auf dem Bildschirm las, und ich spürte ihre
Hände auf meinen Schultern. «Was wirst du ihm antworten, Mom? Sag's mir, Mom.»
    «Ich werde
meinen Tacker griffbereit halten.»
    «Ach, Mama»,
stöhnte sie. «Siehst du nicht, dass er sich bemüht? Es geht ihm schlecht.»
    Meine Tochter
rollte den Schreibtischstuhl, auf dem ich saß, zurück, sprang auf meinen Schoß und
begann mich zu umschmeicheln und zu beschwatzen, dem lieben alten Pa etwas Ermutigendes
zu antworten. Sie zog an meinen Ohrläppchen, zwickte mich in die Nase und sprach
mit verschiedenen Akzenten - einem koreanischen, einem irischen, einem russischen
und einem französischen -, um Fürsprache bei mir einzulegen. Sie sprang von meinem
Schoß herunter, steppte und tanzte Shuffle Ball Change und wedelte mit den Armen
und verlangte lautstark die Wiedervereinigung des alternden Paars, einer Mommy und
eines Daddys, Sonne und Mond oder Mond und Sonne, das Doppelgestirn ihres Kindheitshimmels.
     
    Am Tag von
Abigails Beerdigung regnete es, und das fand ich richtig. Der Regen fiel auf das
gemähte Gras, und ich erinnerte mich an die Worte, die sie in Gobelinstickerei
geschrieben hatte: Gedenke, dass mein
Leben ein Wind ist. Rolling Meadows war an diesem Nachmittag
in den Kirchenbänken stark vertreten, was bedeutete, dass eine Menge Frauen da waren,
weil dort Frauen lebten, hauptsächlich jedenfalls, obwohl der lüsterne Busley in
seinem Elektrorollstuhl erschien, den er hinten im Kirchenschiff parkte. Ich sah
die Nichte, die alt aussah, aber sie war wahrscheinlich ja auch über siebzig. Meine
Mutter war gebeten worden zu sprechen. Sie umklammerte das Redemanuskript auf ihrem
Schoß, und ich spürte, dass sie nervös war. Bevor wir losgegangen waren, hatte sie
mehrere schwarze Garderoben anprobiert, hatte sich Sorgen gemacht wegen eines Kragens
und ob das Kleidungsstück auch gut genug gebügelt war und ob es auf einer Bluse
einen Fleck gab oder nicht, und schließlich hatte sie sich für einen Baumwollanzug
mit einer blauen Bluse darunter entschieden, die Abigail immer bewundert hatte.
Der Pastor, ein Mann mit wenigen Haaren und einem angemessen ernsten Gebaren, konnte
unsere gemeinsame Freundin nicht gut gekannt haben, weil er Falsches über sie äußerte,
bei dem meine Mutter neben mir sich versteifte. «Ein loyales Mitglied unserer Gemeinde
mit einem großherzigen und sanftmütigen Geist.»
    Meine elegante
kleine Mutter stieg bedächtig, aber ohne Schwierigkeiten die Stufen zur Kanzel hinauf,
und sobald sie ihre Füße und ihre Lesebrille ausgerichtet hatte, neigte sie sich
ihren Zuhörern zu. «Abigail war vieles», sagte sie nachdrücklich mit zitternder,
heiserer Stimme. «Doch sie war kein großherziger und sanftmütiger Geist. Sie war
witzig, unverblümt, klug und, um die Wahrheit zu sagen, häufig wütend und reizbar.»
Hinter mir hörte ich ein paar Frauen lachen. Meine Mutter fuhr fort, und ich spürte,
wie sie sich mit jedem Satz mehr für ihr Thema erwärmte. Sie hatten sich im Lesezirkel
kennengelernt, an jenem Tag, als Abigail die anderen Mitglieder schockierte, indem
sie den Roman, den sie gerade lasen und der den PULITZER -Preis gewonnen
hatte, als «einen Haufen stinkenden Mist» brandmarkte, ein Urteil, gegen das meine
Mutter nichts einzuwenden hatte, das sie aber anders formuliert hätte, und sie begann
nun Abigails Kreativität zu preisen und die vielen Kunstwerke, die sie im Lauf der
Jahre hervorgebracht hatte. Sie nannte das, was Abigail gemacht hatte, Kunst, und
sie nannte Abigail eine Künstlerin, und Daisy und ich waren stolz, so eine Großmutter
und Mutter zu haben. Ich wusste, dass Mama nicht um Abigail weinen würde. Ich glaube
nicht, dass sie um Vater geweint hat. Sie war eine echte Stoikerin; wenn man nichts
daran ändern kann, weg damit. Die Schwäne starben, einer nach dem anderen. Wir alle
sterben einer nach dem anderen. Wir riechen alle nach Sterblichkeit und können es
nicht abwaschen. Wir können nichts dagegen tun, außer vielleicht ein Lied anzustimmen.
    Wir müssen
uns eine Weile verlassen, mich und Daisy und
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