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Hundstage

Hundstage

Titel: Hundstage
Autoren: Walter Kempowski
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er, und er hatte das Gefühl, endlich, am Ziel zu sein.

    Plötzlich erschrak er: Fingerling! Um Gottes willen, Fingerling! Der Roman!

    In seinem Gehirn grellte rasende Musik auf: Er taumelte die Treppe hinauf über Kleider-und Anzugberge, auf die man Zahnpastatuben und Marmeladengläser geleert hatte, und stand vor der verschlossenen Tür seiner Fluchtburg. Die Zellentür hatte widerstanden! Obwohl sie deutlich «die Spuren von Gewaltanwendung» trug, wie es dann wohl im Polizeibericht heißen würde.

    Sowtschick öffnete: Auf dem Sekretär lag es wohlbehalten, das Manuskript der «Winterreise». Er nahm es in beide Hände und küßte sie, die heilige Schrift. «Gerettet!» Und er schrie laut: «Dazu ward ihr zu dußlig, ihr Idioten!»

    Dann glitschte er über Tausende von Notizzetteln die Treppen wieder hinunter, bis in den Keller: dem Loire-Wein die Hälse abgebrochen, eine Flasche nach der anderen.

    Wenn sie den Wein wenigstens getrunken hätten, dachte Sowtschick. An ihrer torkelnden Betrunkenheit hätte man sie dann erkannt.

    Der Fleck, in den die Nacht-Silvesters sich sonst verkrochen, war noch da. Die sind weg, dachte Sowtschick, die kommen nie wieder, flatternd, gackernd und keck.

    Dann setzte er sich mitten im Studio auf den Haufen seiner atomisierten Habe; wie der Teufel auf den Kohlen saß er da, das Manuskript in der Hand. Da drüben, die chinesische «Idioten»-Vase, die war natürlich unversehrt.

    Er fühlte sich als Kamerad der geplünderten Ostpreußen, der ermordeten Juden, der Mönche in den Bauernkriegen, die zusehen mußten, wie man ihre geschnitzten Altäre ins Feuer warf. Er war ein Römer, dem die Barbaren seine Marmorhalle verwüsteten, und er stand gleichzeitig unter dem Eindruck, gefilmt zu werden, wozu es gehörte, daß er Gefühle zeigte, also schlug er die Hände vors Gesicht und weinte, und gleichzeitig überlegte er, wie sich die ganze Sache in der Presse ausnehmen würde. Möglichst heute noch diverse Fotos davon machen!

    Da fuhr ein Auto vor. An der selbstsicheren Art, wie die Haustür geöffnet wurde, merkte Sowtschick, daß es jemand sein mußte, der sich hier auskannte. Und die Schreckensschreie in der Halle verrieten ihm, daß sie es war, Marianne. Ihn zu überraschen, war sie Stunde um Stunde durchgefahren, heiß, verschwitzt, aufgehalten durch Staus, beprasselt von Wolkenbrüchen, aber freudig: Was die Blumen machen, die Hunde und die beiden Schafe! – Als sie das Haus betrat, hatte sie spontan gedacht: Gott, so eine Unordnung. Was hat er hier bloß angestellt? Ist er betrunken oder durchgedreht? Hat alles kaputtgeschlagen, weil ich ihn so lange allein gelassen habe? Aber dann sah sie Sowtschick auf dem Trümmerberg sitzen, die Hände vorm Gesicht …

    Sie setzte sich dazu, legte ihren Arm um ihn und schluchzte auch, und ihr Schluchzen wurde nur gelegentlich unterbrochen durch einzelne Ausbrüche: «Dies Gesindel …», und sie dachten an all das Geld, das sie für «Brot für die Welt» gestiftet hatten, die Brillenspende für Brasilien, an die Patenschaften in Pernambuco, an die Leprahilfe und die DDR-Pakete. Das war nun der Dank! Sie, die immer zum Wählen gingen, stets Handwerker und Arbeiter beschäftigten und ihnen Bier gaben wegen der zu trocknen Luft, die dem Dorf Ansehen verschafften – bestraft, wofür? Was hatten sie falsch gemacht? – Sosehr sie auch überlegten, sie kamen auf nichts. Sinnlos, dachten sie, ein sinnloser Akt der Zerstörung.

    Als sie sich lange genug ihrem Schmerz hingegeben hatten, kehrten die Lebensgeister zurück, ganz konkrete Fragen sorgten für Grund, den sie unter die Füße bekamen. Die Alleetür stand offen, durch diese Tür mochten die Vandalen eingedrungen sein: Die Hunde, ach ja, wo waren sie? Auf Rufen und Pfeifen reagierten sie nicht, einmal die Allee hinauf und hinunter. Die Namen rufen, immer wieder – nichts. Dann sah Sowtschick einen der Corgies mitten in den Kaninchenterritorien unter einem Schlehenbusch zwei-, dreimal mit der Rute klopfen und dahinter die anderen beiden Gesellen: schuldbewußt. An die Kehle hätten sie den Eindringlingen springen müssen, anstatt das Weite zu suchen! Nun, sie wurden wieder aufgenommen in die Arme der Liebe, und sie begleiteten Sowtschick ins Haus hinein, wo Percy an einem der Trümmerhaufen das Bein hob und sich erleichterte. Dann jagten sie ein Karnickel aus dem Haus, das sich in das Studio verirrt hatte.

    Inzwischen war Marianne nach vorn gegangen, an einzelnen Klagerufen konnte
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