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Hundstage

Hundstage

Titel: Hundstage
Autoren: Walter Kempowski
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Nichts hinübergeleiten.

    Auf dem Canal Grande betten tief sich ein die Abendschatten. Während er von seinem Klavierspiel erzählte, jeden Tag drei Stunden, damit er sich auch mal regeneriert und sich erholt von seinen sechs, acht Stunden Schreibarbeit, standen Rubinstein und die Klavierlehrerin neben seinem Bett. Der Vater löste sich aus dem Dunkel, nahm seinen goldenen Zwicker ab und wischte sich Tränen aus den Augen. Auf dem Flur hörte Sowtschick seine Mutter sprechen mit Carola Schade, und nun kam auch von Dornhagen mit Hessenberg den Korridor heruntergeschlendert. Alle wollten zu ihm und sehen, was er da macht. Wie einen Ermordeten wollten sie ihn ansehen, und er lag da wie der bärtige Mann mit den Wundmalen, die ausgestreckte Rechte zur Faust geballt.

    Das Frauchen stürzte sich nicht auf ihn. Sie mochte an einen Fernsehabend denken, in der Wohnküche ihrer «Omma», das Kindchen auf dem Schoß, mit dem sie nichts anzufangen wußte: «Ich besorg mir mal ’n paar Lullen», sagte sie, «hast du Geld?» Ohne seine Antwort abzuwarten, ging sie an sein Jackett, das über dem Stuhl hing, und holte die Brieftasche heraus, nahm einen Zwanzigmarkschein, winkte ihm damit und verschwand.

    Endlich allein, dachte Sowtschick und überlegte, ob hier wohl eine Feuerleiter sei, über die hinweg er abhauen könnte.

    Er horchte. Vielleicht gab es ein Loch in der Wand, durch das er beobachtet wurde und fotografiert. Es wäre ja herrlich, wenn man ihn erpressen würde! Das ganze Drum und Dran! Er würde ängstlich tun und, wenn sie dann hunderttausend forderten, sie einfach auslachen. An den Autor Holderbusch dachte er, der sich als Zuhälter ausgegeben hatte … Marianne würde man das schon erklären können. Er stand auf, schob den Vorhang zurück und sah auf die Straße.

    Ganz von selbst stieg er in die Sandalen und zog sich die Jacke an. Schnell weg hier, dachte er, solange es noch Zeit ist, beenden die Sache, sofort. Er trat aus der Tür und sah den Gang hinunter, kein Mensch zu sehen, nahm dann die Treppe statt des Aufzugs, warf dem Portier fünfzig Mark hin und lief nach draußen. Schluß, aus! – Frei!

    «Alexander!»

    Unter der Windschutzscheibe seines Wagens klemmte ein Stück Zeitung mit Kleinanzeigen: «Hund entlaufen», die Anzeige war angekreuzt, und «schönen Dank für die Lullen!» stand darunter.

    Also denn: in die «Vier Jahreszeiten». Erleichtert, Gott sei Dank! Frei! Sowtschick fing an zu lachen und trommelte auf den Lenker… Das war wieder mal ein Ding, das mußte er unbedingt in den nächsten Roman einarbeiten! Und während es zu regnen begann, notierte er sich als zweiten «Strang» die Scherenschleiferin, das wäre der rechte Kontrast zur «Drohnin», ja eine Variante.

    Sowtschick schob das Violinkonzert von Bruch in den Recorder und ließ sich in festlich-fröhliche Stimmung versetzen. Oistrach, dieser zur Tapferkeit entschlossene Einsame nun ein Triumphierender …

    N achdem sich Sowtschick am nächsten Morgen intensiv als Frühstückskönig betätigt hatte, fuhr er beschwingt nach Hause. Es regnete, und die beiden Scheibenwischer fuhren quietschend von einer Seite zur andern: Die kriegen sich nie, dachte Sowtschick.

    Er reihte sich in den zweispurigen Urlaubsrückreiseverkehr ein: Westerland und Wyk, St. Peter-Ording und Scharbeutz, er winkte Kindern zu, die, ein Stofftier in der Hand, gelangweilt aus dem Heckfenster guckten. Er freute sich mit all den Menschen links und rechts, vorn und hinten, daß sie vierzehn sonnige Urlaubstage verlebt hatten. Surfbretter auf dem Dach und Fahrräder, deren Räder sich im Fahrtwind drehten. Die Taschen voll belichteter Filme, ewige Erinnerungen an Sonne und Wasser, Schnellimbißstuben und Kulturprogramme, das alles würde sie gefeit machen gegen extremistische Parolen. Diese Menschen würden nun in Oberhausen oder Duisburg gestärkt an ihre Arbeit gehen, die Drehbänke einstellen, die Zeichenbretter mit Zeichenpapier bespannen, Arbeiter der Faust und Arbeiter der Stirn, und er freute sich, daß er selbst, wie sie, seinem Zuhause entgegenfuhr, um seinerseits sich um die Ewigkeitswerte abendländischer Kultur zu kümmern, ohne gezwungen gewesen zu sein, in einer französischen Ferienwohnung zu hausen und schlechte Pommes frites zu essen.

    Auch der entgegenkommende Autostrom war interessant. Auch das waren Menschen, die die Taschen voll belichteter Filme hatten, auf dem Dach Surfbretter und Fahrräder, deren Sättel nun naß wurden, Arbeiter der
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