Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hundstage

Hundstage

Titel: Hundstage
Autoren: Walter Kempowski
Vom Netzwerk:
Rückspiel die bessere Mannschaft gewinnt. Olé!

    Im Zweiten Programm lief eine Unterhaltungs-Show, in der uralte Menschen mit Gebiß und Hörbrille einander in die Arme sanken, weil sie sich so lange nicht gesehen haben. Ein Flaksoldat, der einer französischen Widerstandskämpferin das Leben gerettet hat: «Was fühlen Sie, wenn Sie sich jetzt so wiedersehen?»

    Wie sie das wohl machen? dachte Sowtschick. Vielleicht fragen sie die Ehefrau aus? Wen sie mir wohl schicken würden … Ihm fiel niemand ein, den er hätte wiedersehen mögen. Freddy vielleicht, das Mädchen aus Santa Barbara – aber doch nicht in einem Fernsehstudio, wo geklatscht wird, wenn man sich küßt. – Oder die Eltern, wenn sie noch lebten, damit sie sehen könnten, wie weit er sich emporgerappelt hat. Der Vater mit dem goldenen Zwicker in seiner zweiten Etage, doll war das nicht gewesen, wenn’s hochkam, zehn Tage Urlaub in Ahrenshoop bei Fischersleuten, und im Winter Schlittschuhlaufen auf dem Wallgraben, die Hände auf dem Rücken. Der Vater. Mit sechsundfünfzig als Greis gestorben. «Mußte das sein?», der Satz stand auf seinem Grabstein.

    Genugtuung erfüllte Alexander: er selbst war nun schon sechzig. «Siehst du!» hätte er am liebsten gesagt und: «Das hättest du wohl nicht gedacht.»

    Im Dritten Programm wurde ein proletarisches Theaterstück gezeigt, vom Deutschen Gewerkschaftsbund bezuschußt, in dem die Arbeiterschauspieler die Faust hoben und Lieder mit Triumphcharakter sangen.

    Frau Dr. Wege kündigte im Wetterbericht Eintrübungen an. Tiefausläufer des Wirbelsturmes Betsy, also doch wohl Regen, erquickend für das ausgedörrte Erdreich, endlich.

    Und dann das Deutschlandlied, die «dreischiffige Hymne», zweihundert Jahre alt – schöner als die kriegerische Marseillaise oder das eintönige «God save the Queen». Er drehte das ab. Er hatte nichts gegen dieses Lied, aber er hatte es satt.

    Auf den anderen Kanälen war schon Schluß. Diesem Tag war nichts mehr abzuzwingen, jetzt mußte geschlafen werden. Er zog sich noch nicht aus, er legte sich auf das Bett und zwirbelte sich am Ohrläppchen. An die Kindheit dachte er, an den Zahnarzt, der ihm das Amalgam in den frisch ausgebohrten Zahn gedrückt hatte. Und dann fielen ihm andere Ohrläppchen ein, braungebrannte, kleine, feste, mit Loch für den Ohrring. Ah! Billige Ohrringe, das war es. Ein Kettchen um das Fußgelenk und billige Ohrringe … Wie die Kopfjäger in Sumatra Schrumpfköpfe, so Ohrläppchen sammeln, abschneiden und auf einen Draht ziehen. Oder in einer winzigen Gefriertruhe horten, jedes in einem Schächtelchen, rosig, mit zartesten Härchen?

    Das Kästchen, das ihm Hessenberg in die Hand gedrückt hatte, fiel ihm ein. Er riß die Verpackung auf: Es enthielt einen Koselgulden, eine Aufmerksamkeit im Hinblick auf sein letztes Buch, vielleicht auch eine freundschaftliche Mahnung, es mit den Fleisches-Freuden nicht zu arg zu treiben. Bei der Reprintmünze handelte es sich um einen Scherz Augusts des Starken, der auf das «Kosen» anspielte, eine wollüstige Szene war darauf zu sehen, die absolut uninteressant war.

    Sowtschick war gerührt, der alte Herr war eigentlich ein ganz famoser Mann.

    Daß durch den Mordverdacht der Absatz der Bücher dramatisch in die Höhe gegangen war – «Nu geiht dat an de tweite Milljon ran!» –, war ja höchst erfreulich. Vielleicht könnte man an das Schwimmbad eine Voliere anbauen? Seltene Vögel hineinsetzen, die einem auf die Schulter fliegen und Körner von den Lippen fressen. So wie in Rio, 1983, die kleinen Papageien.

    Beim nächsten Buch, kurz bevor es erscheint, wieder irgendwas anstellen! Für PR-Effekte sorgen, vielleicht ein Rencontre mit Achilles vom Zaun brechen, mit derben Worten und ihm welche an den Hals schlagen. Aber lieber nicht, der war womöglich wahnsinnig stark?

    Als er sich entschlossen hatte, schlafen zu gehen, den Koselgulden aufgestellt auf dem Nachtschrank wie einen Taschenwecker, zwang es ihn noch einmal aus dem Zimmer heraus. Er fuhr hinunter und stellte sich neben den livrierten Portier in die laue Nacht hinaus (am schwarzen Himmel wetterleuchtete es). Und da sah er plötzlich, wie einmontiert in dieses Bild, die Scherenschleiferin auf einer Bank sitzen. Sie war damit beschäftigt, sich einen Lappen um den Zeigefinger zu wickeln.

    Sowtschick holte das Auto und fuhr vor, er öffnete die Wagentür, klack, steig ein in die Gondel, 136 PS erwarten dich mit Einspritzdüsen und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher