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Hundstage

Hundstage

Titel: Hundstage
Autoren: Walter Kempowski
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Plastikgefäße verteilt, die «Gerda» hießen, verschiedene Mahlzeiten, im voraus gekocht, eine Linsensuppe, kalte Frikadellen, grüne Bohnen und eine Schüssel Pellkartoffeln, die bei äußerster Einschränkung für drei Tage je ein Bratkartoffelgericht ergeben würden. Auf der Linsensuppe stand ein Kärtchen. Liebster Mann! war darauf zu lesen, in den vertrauten runden Buchstaben, etwas fliehend und an den lieben runden Kopf erinnernd mit den klaren Augen, an den man den eigenen lehnen konnte in schweren Stunden. Liebster Mann!

    Sowtschick nahm das Kärtchen an sich. Er warf die Tür des Kühlschranks zu und seufzte einmal tief auf, so wie die Hunde es taten, die ihren Dressurakt in sich zusammenfallend aufgaben, um sich gleich darauf in der Halle vor dem bis zum Boden reichenden Fenster auf die roten Fliesen zu legen, wo sie bereits von Stubenfliegen erwartet wurden.

    Alexander Sowtschick ging in sein Arbeitszimmer hinüber, vom Architekten «Studio» genannt, einen saalartigen Flachbau, der durch einen Büchergang mit dem Wohnhaus verbunden war. Der Büchergang war zweiundzwanzig Meter lang, Sowtschick maß ihn immer wieder aus, er freute sich, daß in der Architekturzeitschrift gestanden hatte: «Minutenlang geht man hier an Büchern vorüber …»

    Mitten in dem Studio, das mit seinen alten Möbeln an ein Refektorium erinnerte, stand der Schreibtisch, an dem Sowtschick, durch breite Fenster auf norddeutsche Wiesen blikkend, das Schreiben seiner Bücher zelebrierte, denn, dies ist nachzutragen, Alexander Sowtschick war Schriftsteller. Was er der Welt zu sagen wußte, floß ihm zwar nicht leicht, aber doch regelmäßig aus der Feder, und die Welt nahm es an, wovon das Haus zeugte, mit Halle, Büchergang und Studio und diversen, in den von der Zeitschrift als «Park» bezeichneten Garten sich vorschiebenden gläsernen Anbauten.

    Sowtschick legte die Postsachen zu anderen Briefen, die bereits auf dem Schreibtisch lagen, wodurch der Stapel ins Rutschen geriet. Sich auffächernd, glitten die Briefe über die glatte Tischplatte und segelten auf den Fußboden: Ansichtskarten, Briefschaften verschiedenen Formats, Air-Mail-Letters, besetzt mit fremdartigen Frankaturen, und breite Drucksachen, Kataloge enthaltend, in denen sehr billige oder sehr teure Bücher angepriesen wurden, Investitionsangebote «nach dem Bauherrenmodell» oder Hochglanzprospekte mit großäugigen Kindern auf dem Deckblatt: «Denkt an die Dritte Welt». Der Hinweis auf «Adhäsionsverschluß» führte gewöhnlich dazu, daß Sowtschick die Drucksachen ungeprüft in den Papierkorb warf.

    Sowtschick hatte den Briefen zugesehen, wie sie über den Fußboden rutschten. Er bückte sich nicht, um sie einzuschaufeln: Bücken — nie wurde er die Vorstellung los, daß ihm beim Bücken eine Ader platzen würde im Kopf, heiß und elektrisch, und daß er womöglich, eine unleserliche Ansichtskarte aus Kairo in der Hand, am Boden verröchelte.

    «Hätte man ihn sofort gefunden, dann wäre er vermutlich noch zu retten gewesen …»

    Eine solche Feststellung in seinem Nekrolog wäre Sowtschick stillos erschienen: Er dachte eher daran, daß sein Leben jenseits der Achtzig ganz allmählich ausliefe. Und er sah sich auf dem Sterbebett liegen, den Blick verlöschend auf ein über ihn gebeugtes Mädchen gerichtet, das ihn liebevoll anschaut: Blond müßte es sein, das wäre wünschenswert.

    Sowtschick setzte sich an den Tisch und faltete die Hände unter dem Kinn. Die Wiener Bronzen (ein Hahn und zwei Hennen), das Briefmesser mit dem Jadegriff, das Paperweight aus Bristol – so war man denn nun allein. Mit der sich vergrößernden Entfernung zwischen der dahinsausenden Marianne und ihm fielen Magendruck und Puls ab, die Stirn glättete sich, und ein Lächeln erheiterte seine Züge. Sechzig Jahre alt, die Steuern gezahlt. Es war, als ob er in jüngere Jahre hinunterliftete, hinauf oder hinunter, wie man’s nimmt.

    Es fehlte nicht viel, und er hätte den Hausmantel auseinandergerissen und frei! geschrien. Ich bin frei! Von diesem Ausruf hielten ihn sein Temperament und der Anblick der Briefe auf dem Boden ab, die er in den nächsten Tagen beantworten mußte, denn Frau Nerger, die sich sonst um seine Korrespondenz kümmerte, war schon vor Tagen nach Gran Canaria geflogen. Der stetig anwachsende Postberg würde seiner Freiheit Schranken setzen. Wieso eigentlich? fragte er sich. Hatte er nicht ebenfalls einen Urlaub verdient? Warum mußte er sich schinden?

    Auf
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