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Hundestaffel

Hundestaffel

Titel: Hundestaffel
Autoren: Stefan Abermann
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ein starres Bild von mir gegeben hatte, denn nun sah ich über seine Ränder hinaus. Ich stürzte mich gierig auf jenen Bereich, in dem das Glitzern des Fotos ruckartig ins Leben übergeht. Wenn man sich auf die Bewegung rund um das Foto konzentriert, wird der Inhalt des Bildes nebensächlich. Die Mitte wird von der Peripherie gefressen, das Zentrum erstickt an seinen Vororten.
    Ich gebe zu, das Erinnern hatte so nicht mehr unbedingt den Stellenwert, den es hätte haben sollen. Und wahrscheinlich hätte ich gut weiterleben können, wäre mir nicht diese eine Woche in die Quere gekommen, in der eine kleine Bewegung alles umstürzte. Und jetzt, nach nur sieben Tagen „Leben“, wünschte ich mir plötzlich, ich hätte das ein oder andere Foto gemacht. Denn im Moment muss ich mich zwingen, die Bilder wieder scharf zu bekommen, die aus dieser vergessenen Zeit noch übrig sind.
    Ich kann nicht sagen, jemand hätte mich gezwungen, alles zu erzählen. Wem auch? Ich könnte mir einen Zuhörer erfinden. Einen Geheimagenten im Auftrag meiner Erinnerung. Jemanden, der mir hilft, Ordnung in die Gedanken zu bringen. Sind Sie bereit, James? Bleiben Sie an meiner Seite! Seien Sie meine Waffe gegen die Vergesslichkeit.
    So schwer sollte es doch eigentlich nicht sein. Schließlich geht es nur um eine Osterwoche. Aber meine Anhaltspunkte für den Verlauf der Geschichte sind spärlich. Meine Stoßrichtung ist ein einziges Bild. Weniger noch. Eine kleine, unbedeutende Geste. Sie ist meine Achse. Und von ihr muss ich ausgehen. Von einer kleinen Handbewegung. Nicht mehr. Wie ein Marterpfahl steht diese Bewegung in meiner Erinnerung, als wäre sie die einzige, die ich aus meinem Leben jemals behalten dürfte. Dabei hatte ich schon geglaubt, sie vergessen zu haben. Wenn mein Hirn ein Meer wäre, wäre diese Erinnerung eine Flaschenpost – niemand weiß, wann und wo sie wieder an Land gespült wird. Es hat wohl einfach eine gewisse Zeit gebraucht, bis mein Kopf den entscheidenden Moment abgeschliffen hatte mit einem langen, gleichbleibenden Strom aus Hirn-Wellen und Gischt.
    Erst jetzt bemerke ich, wie viel ich ignoriert habe; was alles in meiner nächsten Umgebung einfach an mir vorbeischwamm, ohne dass es mir zugänglich geworden wäre. Es leuchtete direkt vor meinen Augen auf, doch ich ließ die Schlaglichter passieren. Die rutschten einfach so ab ins Dunkel. Und das gilt nicht nur für den Ablauf dieser Osterwoche (nennen wir es die „Chronologie der Ereignisse“), es gilt auch für die Menschen um mich herum. Können Sie sich noch an die unbekannte Person erinnern, die Sie letzte Woche in einer Bar kennen gelernt haben? Schemenhaft, höchstens? Aber können Sie sich vorstellen, dieselbe Erfahrung mit Ihren engsten Freunden zu machen? Das Gefühl zu haben, Sie hätten sie erst vor einer Woche kennen gelernt? Wie Fremde, mit denen Sie aber doch den Großteil Ihrer Zeit verbrachten?
    Meine Freunde sind mir in dieser Woche rätselhaft geworden. Ich weiß nicht, was ich über sie sagen könnte. Ich weiß nichts mehr. Ich weiß nichts über Anna. Ich weiß nichts über Bélisa. Leo ist mir ein Rätsel. Was kann ich noch über meine Freunde sagen? Dass wir nebeneinander Atemluft verbraucht haben. Sonst nichts. Wenn ich heute versuche, ihnen nachzuspüren, dann schiebe ich sie auf dem Feld meiner Erinnerung hin und her wie Spielfiguren. Ich stopfe ein bisschen Inhalt in leere Säcke. Ich kann mir heute nur erträumen, was sie vielleicht geträumt hätten. Die Zeichnungen, mit denen ich die Ränder ihrer Bilder ausfülle, werden ihnen wahrscheinlich nicht gerecht. An manchen Stellen muss ich ihnen erst eine Geschichte geben, um ihre Handlungen nachvollziehen zu können. Sie sind als Personen für mich so lückenhaft wie meine Erinnerung.
    Was kann ich also über Hannes sagen? Noch weniger? Oder alles?
    Hätte ich Hannes früher schon einmal beschreiben müssen, hätte ich gesagt, dass er wie ein Orden war, den man an die Brust gesteckt bekam. Hannes adelte. Wir verehrten ihn für das gewinnende Lächeln und den Hauch von Grandezza, den wir neben ihm abbekamen. Wir dankten ihm die Freigebigkeit, die großen Lokalrunden, die kleinen Geschenke. Wir schätzten die Konversationen, den Witz in der Stimme und den unermüdlichen Charme, mit dem er sich den Frauen näherte.
    Heute sehe ich andere Details. Ich sehe, dass es leicht ist, mit dem Geld des Vaters freigebig zu sein. Ich habe mitbekommen, dass es leicht ist, in Diskussionen zu glänzen, in
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