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Hundestaffel

Hundestaffel

Titel: Hundestaffel
Autoren: Stefan Abermann
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die Scheinwerfer gehalten. Sätze, die ich mit der Nacht wechselte, damit mir die Nacht ein kleines Stückchen Ewigkeit in die Handfläche drücken konnte. Ich winkte der Nacht zu und lief weiter. Mit den anderen immer weiter. Immer wieder.
    Die Tablette schmeckte bitter. Die Nacht schien sich zu verfärben. Eine Schattierung von Weiß.
    Und als ich aufwachte, erinnerte ich mich an einen Traum, aber nicht, wie ich nach Hause gekommen war.

    Die Träume in dieser Osterwoche. Auch sie sind wichtige Fundstücke auf dem erzählten Weg zurück. Würden Sie auf die Idee kommen, einen Traum aufzuschreiben, weil er später von Bedeutung sein könnte? Weil er ihnen später bei der Erinnerung helfen könnte? Ich zu dieser Zeit nicht. Doch ich verstehe schon: Wo das Gedächtnis aufgehört hat zu existieren, gibt es immer noch den Traum, die bizarren Kohlestücke, die zurückbleiben, wenn der Tag sich weggefackelt hat. (Anweisung, James: Sprechen Sie mit tiefer, ernster Stimme den folgenden Absatz aus:) „Es ist ein reiches, fruchtbares Gebiet, dieses Brackwasser zwischen dem Einschlafen und Aufwachen – ein schlammiger, salziger Sumpf, aus dem das festgefahrene Strandgut unserer Tage ragt. Wir liegen am Strand und sehen von Zeit zu Zeit hinaus in die schmutzigen Wellen. Hin und wieder treibt eine Flaschenpost vorbei.“
    Ich stelle mir Träume vor wie einen Sturm auf der Wasseroberfläche. Die Wellen öffnen sich wie schwere metallene Pforten, und ein vergessenes Volk spült über uns hinweg, schießt wie eine Armee von Krebsen aus Löchern im Sand hervor und schnappt nach der Beute, nach uns. Die Wachzeit ragt dahinter ins Bild wie ein Sonnenaufgang. Und zwischen beiden Welten liegt das Erwachen wie ein messerscharfer Horizont. Er bildet die Grenze zwischen zwei autonomen Territorien, die einander belagern.
    Hin und wieder passiert es, dass die Grenze verschwimmt. Wenn der Traum in die Realität tritt, wenn die Fiktion in das Tageslicht hineinschwappt, tröpfchenweise die Wirklichkeit benetzt und sich schließlich in sie ergießt wie das Licht eines Fernsehers in einen dunklen Raum. Diese Momente entwickeln eine gefährliche Dynamik: Es scheint mir, als öffnete ich einem grobschlächtigen Monster die Tür, der Traum rammt die Klauen in den Spalt. Worauf kann man sich noch verlassen, wenn nicht mehr klar ist, was ernst ist, was geträumt? Wenn man nicht mehr unterscheiden kann, ob man einen Tag erlebt hat oder nur die Erinnerung daran in einer täuschend echten Traumwelt? „Finden Sie das nicht auch
schräääcklich
verunsichernd, lieber James?“ (Sagt Miss Moneypenny im Kopf.) „Da besteht Verwechslungsgefahr!“ Vielleicht vergessen sich Träume deshalb so einfach. Vielleicht wehren wir uns instinktiv gegen alles, was uns nicht echt erscheint. (Dazu folgende Frage: Misstrauen Sie diesem Satz? Wehren Sie sich gegen diesen Satz? Was ist denn noch echt, sobald es jemand hinschreibt?) Sicher ist jedenfalls: In den Träumen spiegelten sich Dinge wider, die ich im Wachzustand vielleicht noch nicht verstand. Und ich erinnere mich an mehrere Träume aus der besagten Osterwoche.
    Der erste Traum spielt in einem Zirkus. Anna, Bélisa, Hannes und Leo stehen in der Manege im Kreis. Ich stehe am Rand, ich bin der Zirkusdirektor, die Scheinwerfer blenden mich, die Zuschauer verstecken sich hinter dem Lichtkegel. Trotzdem spüre ich ihre Blicke, ich weiß, die Vorstellung hat schon längst begonnen. Ich fühle das Prickeln der Erwartung. Ich weiß, dass es unsere Pflicht ist, die Menge auf den Rängen zu unterhalten. Ich fühle das Mikrofon in meiner Hand, es ist angenehm schwer wie eine Waffe. Hannes trägt einen Zylinder. Erwartungsvoll sieht er mir entgegen. Doch genau in diesem Moment treten mir Schweißperlen auf die Stirn. Ich erkenne, dass wir gar keine Nummer einstudiert haben. Dieses Detail ist uns vollkommen entgangen. Das Publikum ist umsonst gekommen. Ich beginne, aufgeregt die Manege abzuschreiten, als könnte ich die Katastrophe damit noch abwenden. Ich führe das Mikrofon zum Mund, ich verstehe, dass ich das, was ich nun zu sagen habe, auf irgendeine Weise aufpolieren sollte, um von den Schwächen abzulenken. So beschließe ich, meine Ansage auf Englisch zu sprechen, doch kaum öffne ich den Mund, bemerke ich, dass ich die Sprache nicht ausreichend beherrsche, mehr noch, dass ich selbst am Rand der Manege sitze und jeden meiner Fehler auf einer Schiefertafel anschreibe. (Bei jedem Fehler ertönt das Kreischen einer
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