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Hundestaffel

Hundestaffel

Titel: Hundestaffel
Autoren: Stefan Abermann
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übereinanderlegten wie Worte in einem Raum.
    Gut, man könnte auch das Folgende behaupten: Wir waren auch die Suppe, in der alles bereits einmal gekaut worden war, jeder Beat, jeder Stil, jedes Hemd, jede Hose, jeder Arsch bereits berührt, jedes Auge schon gesehen und kein Takt, in dem nicht schon einmal geklopft worden wäre. In Summe ergab sich ein Haufen aus Teilchen, ein Museum von Geschichten, das niemand betrat, ein Strom aus Partikeln, in den wir traurig die Hand hielten und die Finger spreizten, denn wir wussten: Nichts von allem hier berührte uns, nichts von allem hier war relevant genug, es festzuhalten. Wir waren nur ein Übergang zwischen zwei Tracks, zwischen zwei Stunden. Das war das Beruhigende. Willkommen im Klub, willkommen auf der Party deines Lebens.
    In der Wiederholung löste sich die Zeit auf, in der Wiederholung lag auch der Schlüssel zur Gleichgültigkeit. Die Wiederholung machte es leichter, sich mit Dingen abzufinden. Denn alles war Gegenwart. Was vorher war, verlor sich im Gähnen der Vergangenheit. Und vorn lag die Zukunft wie eine weiße Fahne auf weißem Grund – ein schwaches Flattern im Fahrtwind.
    Heute würde ich sagen, dass wir nicht nur das Gefühl für die Zeit verloren hatten. Es gab einfach überhaupt keine Vergangenheit mehr. Alles, was hinter uns lag, rutschte zusammen, Geschichte kondensierte zu einem Tropfen und verdunstete auf der Stelle wieder. Die Vergangenheit war ein Ereignis, das an einem Tag geschehen war. Alles war an einem Tag passiert: der Sturm auf die Bastille, die Entdeckung einer neuen Welt, die Explosion in Hiroshima, eine Metallkugel im All piepte, jeden Tag. Alles geschah an einem Tag, demselben Tag in der Geschichte. Wir taten jeden Tag den ersten Schritt auf einem neuen Mond, in unserer Vergangenheit, dem Tag, der niemals verging. Was wir nicht erlebten, war kein Ereignis. Unser erster Rausch hatte länger angehalten als der Zweite Weltkrieg. Ein Krieg hatte keine Dauer, denn wir hatten ihn nicht gekämpft. Er war nur eine Seite in einem Geschichtsbuch. Wir blätterten schnell um.
    Unsere Welt folgte anderen Gesetzen: Eine Mode hatte eine Breite, Länge, Diagonale und Höhe. (Hausaufgabe: Berechnen Sie die Oberfläche eines Adidas-Schuhs!) Ein Trend war messbar, ein Hitsong eine feste Größe. Ein Film ein Bild für die Ewigkeit. Man hätte sogar sagen können: unsere Ewigkeit. Oder einfach mein Teil einer Ewigkeit. Mein unendliches Ich.
    Jeden Abend raunte uns das Palace ein „Willkommen im Klub“ zu. Jeden Abend neue Vertraulichkeiten: „Wo du herkommst, waren wir schon. Und wo du herkommst, ist uns nicht wichtig. Hauptsache, du bist hier bei uns. Immer wieder. Geh nicht weg. Komm wieder. Du würdest uns fehlen.“
    Wann hat Ihnen jemand zum letzten Mal gesagt, dass Sie gebraucht werden? Jeder Abend schien ein Versprechen zu sein. Jeder Abend ein Schritt in ein neues Paradies.
    Darum liefen wir.
    Und doch dürfte sich schon damals Übersättigung breitgemacht haben. Denn sosehr wir es auch versuchten, es fühlte sich nichts mehr so neu an, wie es sollte. Nicht mehr so überwältigend, wie wir es erwarteten. Das Prickeln des Neuen ging unter im Summen der Wiederholung, das Prickeln der Zukunft blubberte fade unter der Gegenwart.
    Es verhielt sich nämlich so: Sobald wir uns an die Überraschung gewöhnt hatten, verlor sie den Kick. Auf einmal war es Standardspaß. Wir griffen immer wieder in dieselbe Wunde, nur um sicher zu sein, dass es immer noch derselbe Schmerz war, dasselbe Brennen, dasselbe Weh. Dabei ignorierten wir, wie sehr sich doch alles schon abgenützt hatte. Wir wollten nicht sehen, dass unser Leben verstaubte wie all die Bilder und Sätze, Filme und Bücher, die wir sofort als alten Unfug betitelten. Wir sahen nicht, dass auch unser Film langsam an Farbe verlor. Wir wandten eine abgenützte Sprache auf eine abgenützte Welt an. Schrieben neue Sätze in das große Buch der Zeit, obwohl es längst schon niemand mehr las. Wir zogen der Welt die Sätze wie ein weißes Tuch zum Abschied über ihr Gesicht und gaukelten uns vor, dass jeder Satz trotzdem von Bedeutung sei.
    Sätze wie die Tür zum Palace, die ich aufstieß, als ränge ich nach Luft. Sätze, die ich immer wiederholen würde, weil sie mit jedem Mal vertrauter klangen. Sätze, die wir in die stickige Luft hineinschrien, Hannes, Leo und ich – PARTY! ZUM TEUFEL! – jeden Tag, mit dem Hochgefühl einer neuen Nacht in der Brust. Die Arme in den Abend gestreckt, die Finger in
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