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Hundestaffel

Hundestaffel

Titel: Hundestaffel
Autoren: Stefan Abermann
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Langsam konstruierte die Polizei sich ein eindeutiges Bild aus der Masse des Vergessenen. Eine geplante Vergewaltigung, Notwehr und ein Vertuschungsversuch mit Todesfolge. Die Geschichte war verwirrend, aber nicht unmöglich. Doch je mehr Hannes in den Mittelpunkt der Nachforschungen rückte, umso mehr schien sich auch das Interesse der Polizei zu zerstreuen. Hannes’ Vater konnte es nur recht gewesen sein. Irgendwann wurde der Fall abgeschlossen.
    Hatte ich die Polizei belogen? Ja und nein. Sagen wir lieber, ich sparte höchstens einige Details aus. Doch ich hatte eine Entscheidung getroffen. Diese Vergangenheit sollte nur meine Erinnerung sein. Ich erforsche sie, verändere sie, doch in der Welt gibt es keinen Beweis dafür, dass sie jemals existiert hat. Ich bin nicht an sie gebunden. Ich könnte mich selbst dafür entscheiden, sie zu vergessen und für immer zu zerstören. Denn vielleicht ist es manchmal gut, etwas im Dunkeln zu belassen. Die Vergangenheit ist eine schummrige Wiederholung. Was ich aber suche, ist die Zukunft. Eine Zukunft ohne Bindungen an das, was hinter mir liegt. Einen Neuanfang, einen Zufluchtsort. Ich sehne mich nach einem ursprünglichen Zustand, einer Erinnerung, die weiß ist und offen für mich, eine Seite, auf die man neu schreiben kann, wo die Zukunft nur noch die Folge meiner eigenen Entscheidungen ist, wo ich nicht mehr ein Werkzeug eines anderen bin, sondern mein eigener Schöpfer. Mein eigener Herr. In der Vergangenheit war alles an einem Tag passiert: der Sturm auf die Bastille, die Entdeckung einer neuen Welt, die Explosion in Hiroshima, eine Metallkugel piepte im All, jeden Tag. Alles geschah an einem Tag, demselben Tag in der Geschichte. Jetzt aber ging ich los. Und jeder Schritt hatte nun seinen eigenen Ort, seine eigene Zeit.
    Fragen wir noch einmal, seien wir mutiger: Ja, ich habe die Polizei belogen. Ja, ich habe mich selbst aus der Geschichte gelöscht. Ich brauchte einen Ort in der Welt, von dem aus ich weitergehen konnte, ohne dass man mir Hannes als Ballast aufhalste. Daher wollte ich diese Geschichte hinter mir lassen. Ich behalte sie nur in mir selbst. Niemand hat darauf Zugriff. Nur ich.
    Selbst diese Erzählung richtet sich an niemand anderen als an mich selbst. Es gibt niemanden, der sie liest, niemanden, der sie bewerten kann. Ich erzähle einem erfundenen, diffusen Fremden von einer vergessenen Welt. Ich spreche ein Phantom an, jemand anderen, von dem ich mir vorstelle, dass er mir zuhört. Hören Sie, James? Es gibt Sie nicht. Sie haben nichts gesehen und gehört. Sie sehen mir nur nach, während ich hinausgehe und verschwinde. Sie sehen mir nach auf meinem Weg zum Bahnhof, einige Wochen später. Wie ich stolz meinen Koffer über den Bahnsteig trage. Es wird einen Fortschritt geben. Nach langer Zeit wird es wieder einen Fortschritt geben. Eine neue Dimension wird sich auftun. Die Zukunft.
    Ich werde mich selbst gehen sehen, gespiegelt in Fenstern, die an mir vorbeifliegen. Ich werde mir zunicken, denn ich weiß, ich gehe nicht einfach irgendwohin. Ich werde ein Ziel haben. Es wird das erste Ziel sein, das ich jemals vor Augen hatte. Es wird Lichter geben, die mir heimleuchten. Es wird das pathetische Gefühl des Aufbruchs geben, doch es wird mir nicht peinlich sein. Jemand wird mir zulachen. Ich werde beschwingt gehen. Ich werde immer Rückenwind haben. Nichts wird mich mehr bremsen.
    Es wird das Gefühl am Bahnsteig geben, einen Schritt in das modrige Abteil, den Schub einer Lok und die Luft, die langsam aus den Lungen pfeift. Ein Zug wird beschleunigen. An einem Fenster werden Lichter vorbeifliegen, der Zug wird dahinschießen, mein Blick sich im Fluchtpunkt der Laternen verlieren. Die Lampen werden eine Zeit lang noch dagegen ankämpfen, dann wird alles im Dunkel verschwinden. Ein Panzer wird sich um das legen, was war. Niemand wird kommen, um es wieder ans Licht zu holen. Das Licht wird nun auf andere Dinge fallen, auf bewusste Bewegungen. Auf Orte, an denen man sich frei bewegen kann. Einen solchen Ort wird es geben, irgendwo. Die Ameise läuft auf einer sicheren Spur aus dem Bild.
    Dieses Abteil wird eine Rettungskapsel sein. Mir gegenüber wird ein anderer Passagier sitzen, vielleicht lächeln und versuchen, eine Unterhaltung zu beginnen:
    „Und, wo geht die Reise hin?“
    „Mal sehen“, werde ich sagen. „Wir werden sehen.“
    Mein Gegenüber wird lachen.
    Ja, mein Mitreisender lacht, weil er nicht alles weiß.
    Denn ich verschweige, dass ich
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