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Hundestaffel

Hundestaffel

Titel: Hundestaffel
Autoren: Stefan Abermann
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Schatten direkt neben ihr. Sie geht nur geradeaus –
bereit, alles zu versuchen
–, auch wenn sie nicht weiß wohin. Und du starrst sie an, gebannt und überrascht, dass etwas so Kleines so groß in dir widerhallen kann. Und gleichzeitig bist du nicht sicher, ob sich das Hochgefühl bis morgen in dir halten können wird oder ob die Ameise abrutschen wird, über die Kopfkante, runter in die mülligen Reste des Gesamteindrucks. Es wäre überraschend, wenn sich diese kleine Bewegung hier einprägen würde. In deiner Welt prägen sich Spuren höchstens in Vinyl ein. Doch du würdest dir wünschen, dass es diesmal anders sein könnte, dass die Ameise so eine Spur zurücklassen könnte, dort an der Kante, damit du ihr am nächsten Morgen folgen kannst.
    Und dann?
    Dann gehst du hin und erlöst das Vieh von seinem Leiden.
Damage destructor. Crowd disruptor. Everytimer
. Du erdrückst das Tier mit der großen Geste eines Fingerzeigs. Und es pumpt. Unter der Fingerkuppe. Alles läuft weiter wie zuvor. Und
everything means nothing to you
.
    Hannes war wie die Ameise: Etwas, das ich weggewischt habe wie ein lästiges Insekt. Das war erst im Nachhinein klar, dass ich da etwas übersehen hatte und dass es da eine kleine Bewegung gegeben hatte, von mir hinuntergedrückt. Das passiert mir jetzt nicht mehr. Jetzt lege ich den Finger an, nicht darüber. Ich verdecke nichts mehr. Ich folge der Spur wie ein Stift einer Linie. Jetzt lassen wir alles nochmal vorbeitanzen und zählen die ganze Saubande ab. Also, haltet euch an den Händen, Kinder.
    Let’s dance.

    Mit der Erinnerung verhält es sich wie mit Fotos.
    Als ich ein Kind war, waren meine Eltern begeisterte Fotografen. Sie dokumentierten die Höhepunkte meines Heranwachsens – die ersten Geburtstage ebenso wie das verquollene Gesicht nach dem ersten ausgeschlagenen Zahn. Sie hielten die Entwicklung der Familie fest – das verstörte Gesicht meiner Cousine, verloren in einem Erstkommunionskleid, das sich aus Angst vor dem Priester braun verfärbt hatte. Auf der nächsten Seite dann die Fotostrecke zum schleichenden Verfall meiner Großeltern, die Serie über das Zergehen und Dahinverfallen von Gesichtern, die wie Ziffernblätter zu sagen schienen, dass es unerwartet spät geworden war.
    Man entwickelte die Fotos und klebte sie in Alben ein. Erinnerungen drängten sich auf den Seiten wie Menschen in einer Menge. Dazwischen Lichtblitze von Zusammenhängen: alles verschoben auf ein matt/glänzendes Abstellgleis. (Bitte gewünschte Oberfläche ankreuzen!) Wenn die Bände in unregelmäßigen Abständen ans Tageslicht geholt wurden, kämpfte sich die aufgestaute Vergangenheit wieder an die Oberfläche und begehrte für einen Moment auf. Aus den Seiten reckten sich unsere Gesichter von den Fotos wie bettelnde Hände durch das Fenster eines fahrenden Autos: „Bitte vergiss mich nicht“, sagten die Fotos, „denn du warst einmal das, was du hier vor dir siehst.“ Und doch hatte ich jedes Mal das Gefühl, dass die Figur auf dem Foto nicht mehr ich war. Wenn das ich sein sollte, war ich nicht mehr sicher, ob es mich überhaupt noch gab. Ich saß in Diavorträgen meiner Eltern und bemerkte, dass mir der Mittelfinger in der Hosentasche aufging wie ein Taschenmesser. In stiller Verachtung saß ich solche Abende ab.
    Auf den Fotos breitete sich auf
Kodak-Moments
das Gefühl hinterhältiger Peinlichkeit aus: Ich sah mich kindlich-stupide durch Gärten tollen. Ich sah mich Bällen und Drachen nachjagen, sabbernd wie ein gutgläubiger Schäferhund. „So ein liebes Kind!“, hallte es durchs Halbdunkel, während der Projektor anerkennend brummte. Doch was auf den Fotos zu sehen war, wollte ich nicht mehr sein. Auf der Leinwand war ich ein gedankenloser Haufen Nachwuchs. Mit einer Mischung aus Abscheu, Mitleid, Neid und Furcht sah ich mir selbst ins Gesicht. Und schwor mir, aus den Fotos auszubrechen. Ich wollte erwachsen werden. Ich wollte kein Abbild von mir sehen. Sondern mich selbst – in Bewegung.
    Wenn eine Kamera auf mich gerichtet wurde, hob ich nun abwehrend die Hand gegen die Linse. Mein Leben bestand nur noch aus einem Verlauf. Nichts blieb mehr hängen. Die Vergangenheit verlief sich. Ich war eine Festplatte in einem Computer. Eine eigenartige Maschine, die sich ständig drehte, um sich ständig neu zu überschreiben. Ständig wurden neue Erinnerungen generiert. Ich gefiel mir in meiner Geschwindigkeit. Ich hetzte dahin, der Wind pfiff mir durchs Haar. Ich vergaß, dass es je
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