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Hundestaffel

Hundestaffel

Titel: Hundestaffel
Autoren: Stefan Abermann
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verzerrten Trompete.) Die Tafel ist nach wenigen Sätzen voller Korrekturstriche. Ich höre leises Gelächter von den Rängen, allgemeine Belustigung erfüllt den Raum. Ich fahre fort zu improvisieren, ich reihe mich in den Kreis meiner Mitartisten ein und kündige noch einmal in meinem schlechten Englisch die Nummer an, die wir nie einstudiert haben. Ich versuche peinlich bemüht die Illusion aufrechtzuerhalten, dass hier gleich ein Spektakel stattfinden wird.
    Ich weiß noch nicht einmal, was wir vorführen wollen. (Schrecklich, James! Schrecklich.) Hinter uns spielt das Orchester einen Tusch wie in einer schlechten Fernsehserie, wir schaffen den Einsatz nicht, und das Lachen schwillt weiter an.
    Plötzlich halten wir Hühnereier in den Händen und beginnen zu jonglieren. Ich schöpfe Hoffnung, als ich bemerke, wie gut wir uns halten: fünf Menschen, die Blicke konzentriert auf die tanzenden Eier gerichtet. Die Hoffnung macht mich übermütig, ich brülle den anderen zu, dass wir uns nun die Eier gegenseitig zuwerfen sollten. Wieder ein Tusch, wir werfen, doch die Eier irren durch die Luft wie betrunkene Hände. Ich sehe die Dotter kraftlos an unseren Kleidern hinunterrinnen, ich trage traurige Epauletten aus Eierschalen. Als ich aufwache, bin ich kein Direktor mehr, sondern ein Clown. Und mein Herz schlägt das Signal für einen Witz in der Manege: ein Tusch zum Aufwachen. Paukenschlag und Beckenschellen. Ein Herzschlag ohne Rhythmus, mit der Aufopferung des Lampenfiebers.
    An diesen Traum erinnerte ich mich, als ich am nächsten Morgen aufwachte, zurückgekehrt aus dem Palace, ohne zu wissen, wie ich nach Hause gekommen war. Ein dünner Film lag über allem. Eine ölige Schicht Vergesslichkeit. Ein unangenehmes Gefühl, als wäre etwas passiert. Es fehlte der Anschluss. So als wäre man nicht allein, sondern stünde neben sich, außerhalb des Jetzt. Die einzige Möglichkeit, dieses Gefühl abzuschütteln, war, es zu übertauchen. Aus der Vergangenheit ständig wieder in die Gegenwart zurückzufinden. Aus der Form der Erinnerung in eine Form des Jetzt zu wechseln. Und so zog ich mich an, nahm das Telefon, wählte Hannes’ Nummer und verließ noch während des Gesprächs das Haus. „Party, zum Teufel“, sagte ich in den Hörer. Und Hannes sagte: „Willkommen im Klub. Wir sind schon wieder für dich da.“

    In einem Spiel könnte es heißen: Ende der ersten Runde. Hier könnte es heißen: Ende des ersten Tages. Ein Tag festgehalten, und doch ist das Ergebnis noch nicht sehr befriedigend. Noch stehen da nur ein paar blasse Schlaglichter. Nichts, was helfen könnte, diese kleine Bewegung zu verstehen. Nichts, was uns auf die richtige Spur bringen würde. Überall nur Lücken und Andeutungen. Wo sind denn die Brücken zwischen den Bildern? Wie sollst du damit bloß umgehen? Da gerätst du doch fast in Versuchung, behelfsmäßig ein paar Stege zu errichten … Kann ich mir die Vergangenheit, die ich nicht wiederfinde, auch neu erfinden? Erfinden natürlich nur im Rahmen des Plausiblen! Damit die wackligen Erinnerungen sicherer im Brackwasser zu stehen kommen. Immerhin hat es mich so viel Mühe gekostet, diese Bilder wieder aufzufinden. Und ich will sie einrahmen, festhalten, selbst wenn die Erinnerung unangenehm ist.
    Wenn ich zurückblicke, ergibt sich ein düsteres Ölbild. Die Farben sind so dick aufgetragen, dass man sie berühren und verformen kann. Ich möchte am liebsten neue Schichten auftragen. Nicht bloß rekonstruieren, sondern retuschieren. Jede Lücke zwinkert mir zu, um mich zum Schummeln zu verleiten. Ich muss mich zwingen nicht zu flunkern.
    Nehmen wir etwa diese erste Nacht: Kann ich mit Sicherheit behaupten, dass auf dem Nachhauseweg vom Palace nicht schon irgendetwas von Belang geschah? Gab es ein Detail, das mir das Verständnis erleichtern würde? Fuck it. Es entgleitet mir. Ich schäme mich fast dafür, aber ich weiß einfach nichts mehr davon. Gerade deshalb wäre es leicht, die fehlenden Teile stillschweigend zu ergänzen. Denn ich muss darauf hinweisen: Diese Erinnerungen gehören nur mir. Niemand sonst weiß, was geschehen ist. Ich kann tun und lassen, was ich will. Ich allein bin der Herr über diese Vergangenheit. Änderungen muss ich nur vor mir verantworten. Warum sollte ich mich nicht neu beschreiben? Mich und meine Rolle im Verlauf der Woche etwas aufpolieren? Warum nicht die Macht ergreifen? Ich könnte ein Held werden, wenn ich es nur wollte! Genau das fehlte mir schließlich: Ich
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