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VT07 - Niemandes Welt

VT07 - Niemandes Welt

Titel: VT07 - Niemandes Welt
Autoren: Dario Vandis
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    Kinga dachte oft an die Frauen zurück.
    In Kilmalie hatten Dutzende von ihnen darum gekämpft, eine Nacht mit ihm zu verbringen. Er war sehr großzügig gewesen in der Gewährung seiner Gunst. Er hatte die Daams geliebt, und sie liebten ihn – wobei man nicht von wirklicher, echter Liebe sprechen konnte. Davon hatte Kinga nur eine vage Vorstellung gehabt, und ehrlich gesagt machte er sich auch nicht allzu viele Gedanken darüber – bis zu jenem Tag, an dem Prinzessin Lourdes in Kilmalie aufgetaucht war.
    Dem Tag, der alles, aber auch wirklich alles verändert hatte.
    In den Augen der anderen Bewohner Kilmalies war die Prinzessin nur ein selbstverliebtes, dekadentes Luder gewesen, übergewichtig, genusssüchtig und nutzlos. Sie bequemte sich nur aus einem einzigen Grund aus ihrer Wolkenstadt Avignon-à-l'Hauteur herab auf die Erde: um die Steuern einzutreiben. Als Prinzessin von kaiserlichem Geblüt, als Tochter des Kaisers Pilatre de Rozier war sie nicht dazu bestimmt, auf den Feldern in harter Tagesarbeit ihr Brot zu verdienen. Stattdessen hockte sie in ihrem Palast in der Wolkenstadt und lackierte sich die überlangen Fingernägel.
    So hatte Kinga sich die Prinzessin stets vorgestellt. So hatten sich alle Bewohner von Kilmalie Prinzessin Lourdes und deren Zwillingsschwester Antoinette vorgestellt. Deshalb sorgten sie über Jahre hinweg durch ein Gestrüpp verwirrender Geschäftskonstruktionen dafür, dass Avignon ein Großteil der Steuereinnahmen vorenthalten blieb, der der Wolkenstadt von Kaiserrechts wegen zugestanden hätte. Die Schwestern waren zu dumm gewesen, den Betrug zu durchschauen, aber ihr Steuereintreiber hatte Lunte gerochen, und deshalb ließen sich die Kilmalier etwas Besonderes einfallen, um Lourdes während ihres Aufenthaltes in Kilmalie vom eigentlichen Ziel ihrer Reise abzulenken.
    Sie setzten Kinga auf sie an. Kinga, den starken Wurmreiter. Kinga, den Traum aller Jungfrauen von Kilmalie.
    Und das Spiel ging auf. Allerdings nicht allein aus Sicht der Prinzessin, die bald nicht mehr auf die Gesellschaft des gut gebauten Bauernsohnes verzichten wollte – sondern ausgerechnet Kinga war es, der sich in die unansehnliche Lourdes verliebte.
    Sie hatten ihn deswegen verspottet in Kilmalie. Sie hatten sich vor Lachen ausgeschüttet, weil er in Gegenwart der Prinzessin etwas fühlte, was er nie zuvor in seinem Leben gespürt hatte. Echte Zuneigung. Prinzessin Lourdes, so verzogen und egoistisch sie auch sein mochte, besaß einen guten Kern, und ihm sollte es bestimmt sein, zu diesem Kern vorzudringen und das Herz der Prinzessin für sich zu erobern.
    Nichts war ihm vorbestimmt. Nichts davon sollte jemals geschehen. So wollten es die Götter des Feuers, die in dem Berg über dem Dorf herrschten.
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    Die Götter hatten Kingas Träumen einen Riegel vorgeschoben an jenem Tag, an dem sie den Kilmaaro Feuer spucken ließen und die Lava sich glühend über die Hänge in Richtung Kilmalie schob. Erdspalten rissen auf, und die Kilmalier retteten ihr Dorf erst im letzten Augenblick, indem sie das Feuer mit dem Wasser des nahen Stausees bekämpften. Die Große Grube in der Nähe Kilmalies wurde förmlich von den Naturgewalten zerrissen, und aus den Spalten krochen…
    Menschen!
    Nein, keine Menschen. Sie sahen Menschen ähnlich, aber sie hatten offenbar seit Urzeiten unter der Erde gelebt. Ihre Haut war grau, ihre Schädel kahl, und ihre Augen lagen so weit in den Höhlen, dass sie wie Tote wirkten. Stumm und scheinbar willenlos taumelten sie über die Erdoberfläche, erfüllt von nur einem einzigen Wunsch – dem nach Nahrung.
    Die Grauhäutigen sprachen nicht. Sie verhandelten nicht. Sie griffen an und sie fraßen, wen sie angriffen. Dabei stießen sie nur jenen einen undeutlichen Laut aus, der ihnen in den Erzählungen der Kilmalier schließlich ihren Namen verlieh.
    Die Gruh fielen über Kilmalie her wie die gefürchtete Frakkenplage[1], töteten Dutzende Menschen, nährten sich von ihren Gehirnen – und entführten Prinzessin Lourdes. Die Spur führte zur Großen Grube, ins Innere der Erde.
    Kinga folgte ihr mit einem Trupp »Freiwilliger«, die Zhulu, der große Quarting, ausgewählt hatte. Kinga war der Einzige, der durchhielt. Der Einzige, der überlebte und schließlich erkennen musste, dass Prinzessin Lourdes von den Gruh getötet worden war.
    Seitdem geisterte das Gesicht der geliebten Prinzessin durch Kingas Verstand. Er hatte kaum mitbekommen, wohin die Gruh ihn verschleppten.
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