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Hohe Wasser

Hohe Wasser

Titel: Hohe Wasser
Autoren: Eugenie Kain
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nie in meinem Leben geschrien hatte. Endlich war ich draußen. Atemlos und mit rauer Kehle blickte ich in staunende und fragende Gesichter. Ich stieß die Schauer zur Seite und stürzte zum gelben Kreis. Er war leer. Ludmilla hatte nicht auf mich gewartet. Die Leute gingen auseinander, kopfschüttelnd und belustigt sahen sie mich an, bevor sie wieder unter den Arkadenbögen verschwanden, ihre Stimmen schwirrten noch einen Moment über den Platz, und zum ersten Mal vernahm ich den hämisch klingenden Oberton dieser singenden Sprache, der auch noch blieb, als ich ruhiger atmete, und wieder anschwoll, als eine hagere Gestalt durch das Neustädter Tor davoneilte. Die Fenster des Wohnwagens sind heute Nacht dunkel geblieben.
     
    Die Stimmen irritieren mich. Ihr Klang wird lauter, unruhiger und schärfer. Sie bleiben sanft. Aber sie fordern. Sie befehlen. Sie reden nicht in meiner Sprache. Sie reden auch nicht in der Sprache der Fischer. Es ist eine fremde Sprache. Den Fotoapparat lasse ich sinken, um besser zu hören. Es gibt nur den Teich mit dem leuchtenden Saum und den Himmel darüber, der hoch ist und strahlend. Es ist schwierig, die Stimmen zu orten. Da spüre ich die wunde Stelle in mir, sofort lässt sie mich in die Knie gehen, und plötzlich verstehe ich. Eine Radfahrerin bleibt stehen. Sie nimmt ihren Helm ab und beugt sich über mich. Am blond gefärbten Haar erkenne ich sie und an den vollen Wangen. Es ist Ludmilla. Endlich, sage ich zu ihr, da taucht neben ihr ein zweites Gesicht auf. Kostič. Ich wusste, dass ich dich finde, sage ich. Meine Worte sehe ich aufsteigen wie Sauerstoffblasen im Wasser und an der Oberfläche zerplatzen. Über mir zwei leere Gesichter mit blanken Augen. Rundum schallendes Gelächter. Es kommt aus den überschwappenden Bottichen. Aus den brodelnden Tümpeln. Aus dem kochenden Teich.

Bärenbauch
    Das Sterben war über sie gekommen wie das Wasserglas über das Zeichenblatt. Es war nicht mehr abzufangen. Farben vermischten sich, Konturen lösten sich auf, dehnten sich über den Rand des Papiers. Das Kind tauchte den Pinsel in kräftige, fröhliche Farben, weil die Wände durchlässig geworden waren für lautlose Schatten. Den Erwachsenen wollte es Orange und Zinnoberrot schuldig sein, weil sie es vor den Schatten bewahren wollten. Man wechselte das Thema, wenn das Kind das Zimmer betrat. Aber die Augen blieben bei der Sache. Das Kind sah, dass in den Augen der Mutter jemand keinen Halt mehr fand.
    Eine ungeschickte Bewegung. Flecken formierten sich mit violetten Rändern. Ein böser Sturz. Das nasse Papier nahm neue Formen an, bäumte sich auf, verzerrte die Pinselstriche ins Unkenntliche. Bei alten Frauen bestand die Gefahr. Das Kind stellte das Wasserglas wieder auf. Es war leer. Man musste mit allem rechnen.
     
    Sie ließen Kinder nicht auf die Intensivstation. Die Eltern hatten nicht daran gedacht. Eine Schwester gab dem Kind Zeichenstifte und Papier.
    Das Kind hätte lieber mit Wasserfarben gemalt. Die Eltern verschwanden in seltsamen Mänteln. Es war mühsam, einen blühenden Baum mit angespitzten Farbstiften in rot, grün, blau und gelb zu zeichnen. Das Kind war kein Kindergartenkind mehr. Das Kind zeichnete einen Kirschbaum mit Früchten. Lieber wäre der Stamm in einer weißen Blütenwolke verschwunden. Die Schwester trug die Zeichnung fort. Es sieht nicht gut aus, sagten die Ärzte. Ihr altes Herz ist schwach. Eine schwierige Operation. Hüftprothese. Sie hat uns nicht erkannt, flüsterte die Mutter daheim ins Telefon. Sie bekommt starke Medikamente gegen den Schmerz. – Natürlich weiß sie, dass der Kirschbaum von dir ist, wer sonst malt so schöne Kirschen.
     
    Das Kind dachte oft an die Wohnung der alten Frau. Das Erwachen in dem schaukelnden Ehebett war verknüpft mit dem Geruch frischer Biskuitroulade, die den Geräuschen nach gerade mit dem Backblech aus dem Rohr gezogen wurde, während das geöffnete Fenster Morgenluft und den Ruf der Ringeltaube ins Zimmer ließ. Das Kind schlief gerne bei der alten Frau, obwohl diese in der Nacht laut schnarchte und oft aufstand. Die alte Frau hatte einen Garten. Rote und schwarze Ribisel, Himbeeren, Kirschen, ein Rhabarberschopf neben dem Komposthaufen. Die alte Frau wollte nicht Urgroßmutter genannt werden. Oma, sagte das Kind.
    Butzi, sagte die Frau. Viele Wochenenden verbrachten sie gemeinsam in diesem Garten. Mit Glühwürmchen im Juni, Gelsen im August und Strickjacken im September. Im Altersheim war kein Übernachten
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