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Hohe Wasser

Hohe Wasser

Titel: Hohe Wasser
Autoren: Eugenie Kain
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kein Muskelprotz. Er hat die Kraft im Blick. Rotbraune Augen, in denen ein dunkles Feuer brennt. Er hat nichts vergessen und nichts verziehen. Ein Wink mit den Augen, und die Leute treten zurück. Der Schneckenkönig verbringt viel Zeit in der Au und im Wald. Er sammelt Schneckenhäuser. In seinem Zimmer stapeln sich Schachteln auf den Regalen, dazwischen Gläser und Dosen. Er beschriftet sie mit Datum und Fundort. Besonders schöne Exemplare zeigt er mir. Ich ertaste die Rillen, ich folge den Windungen mit den Fingerkuppen von der Spitze und wieder zurück, ich spüre die Zerbrechlichkeit der Gehäuse. Der Schneckenkönig ist auf der Suche. Er ist auf der Suche nach dem Schneckenkönig, einem Gehäuse, das sich von rechts nach links gegen den Uhrzeigersinn dreht. Eine seltene Mutation bei den Weinbergschnecken. Der Schneckenkönig ist seit seiner Kindheit auf der Suche. Unsere einzige gemeinsame Reise führte nach Wien ins Naturhistorische Museum. Die ausgestopften Säugetiere interessierten uns nur am Rande. Wir hasteten vorbei an den Glaskästen. In manche Tiere waren die Motten gekommen. Ein Wolf war an der Seite kahl und erinnerte mich an meinen Schakal. Der Wolf war 1950 in der Steiermark erschossen worden, nachdem er über die Grenze gewandert war. Die Fische blickten uns traurig nach mit offenen Mäulern und gläsernen Augen. Unser Ziel war die Abteilung der wirbellosen Tiere, und dort eine Vitrine mit dunkelbraunem Holzrahmen. Lange standen wir vor dem Glas, hinter dem drei Schneckenkönige ausgestellt waren. Einem Museumswärter kamen wir mit unserer Bewunderung verdächtig vor. Immer enger zog er seine Kreise um uns, bis ihn ein Blick des Schneckenkönigs aus dem Saal wies.
    Ob sie mit einer Alarmanlage gesichert sind?, fragte ich den Schneckenkönig.
    Willst du sie mitnehmen? Du kennst mich schlecht. Diese Schneckenkönige will ich nicht. Ich finde meinen Schneckenkönig.
    Bei dem Regen treibt es auch die Schnecken an die Oberfläche. Im Wald rutschen sie über den aufgeweichten Boden. Die Feuerwehr hat in der Rudolfstraße Aufstellung genommen. Die Männer pumpen Keller aus. Bald werden sie Verstärkung erhalten vom Bundesheer. Wir brauchen mehr Sandsäcke, damit der Donauschlamm nicht in die Häuser dringt. Der Handchirurg will operieren. Wenn die Operation klappt, greife ich nie wieder in den Dreck oder ins Eiswasser. Ich weiß nicht, wann der Schneckenkönig nach Hause kommt. Er weiß noch nicht, dass mein Mondbein stirbt. Auch seine Arnikaumschläge und Kirschkernbeutel werden nichts helfen. Fremd komme ich mir vor, wenn ich meine Röntgenbilder sehe. Was ist meine Hand anderes als ein Haselgestrüpp im Winter. Ich bin froh, dass nicht mein Schädel ausgestrahlt wird. Ich möchte mir nicht in die Augenhöhlen sehen.
    Ich war auf dem Arbeitsamt und habe mich erkundigt. Was mache ich mit einer rechten steifen Hand? Mit einem absterbenden Mondbein kann mich die Verleihfirma nicht mehr brauchen. Am Arbeitsamt wollen sie mich auch nicht. Da heißt es entweder – oder. Mein Vermittler hat sich in die Telefonzentrale versetzen lassen. Wahrscheinlich, weil es zu viel gibt zwischen entweder und oder. Es heißt, er hat seine Sprache verloren. Klappt den Mund auf und zu wie ein Karpfen, bevor er zu sprechen beginnt. Am Telefon sieht man das nicht.
    Die Donau hat sich unsere Straße genommen. Das Wasser schwappt zu den Sandsäcken. Die Sirenen heulen. Hochwasseralarm. Hier, an meinem Fensterplatz, kann ich nichts tun. Ich werde hinüberwaten zu den Feuerwehrmännern. Jede Hilfe ist gefragt. Ich kann Wasserschöpfen und Schlammschaufeln oder beim Ausräumen helfen. Mein Mondbein soll wissen, dass es mich gibt.

 

     
    Eugenie Kain , geboren 1960 in Linz/OÖ, studierte Germanistik und Theaterwissenschaft in Wien, Autorin, Kulturjournalistin und Beraterin im Sozialbereich.
    Zahlreiche Veröffentlichungen in Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien sowie im österreichischen Rundfunk. Erhielt 1983 den Max von der Grün-Literaturpreis und den Buch.Preis 2003. Lebt und arbeitet in Linz.
    Bisher erschienen »Sehnsucht nach Tamanrasset«, Erzählungen (1999), »Atemnot«, Roman (2001), »Man müsste sich die Zeit nehmen, genauer hinzuschauen. Franz Kain und der Roman ›Auf dem Taubenmarkt‹« (2002).
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