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Hohe Wasser

Hohe Wasser

Titel: Hohe Wasser
Autoren: Eugenie Kain
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auch, sagte das Mädchen und zerrte am Bruder.
    – Schluss jetzt, sagte sie.
    Die Kinder hörten nicht. Auf den nächsten Sprung war sie nicht vorbereitet. Sie verlor das Gleichgewicht. Zu dritt gingen sie zu Boden. Die Kinder wälzten sich lachend im Staub.
    – Noch einmal!
    Sie rieb sich ihren Knöchel. Die Zehe blutete wieder. Die Kinder waren erst zum Weitergehen zu überreden, als sie sich bereit erklärte, die Steine zu tragen. Ihre Badehaube, Schwimmsachen, Portemonnaie, Karten und Fotoapparat schleuderte der Bub auf den Acker und füllte die Umhängtasche mit vielen glänzenden Steinen.
    Unter ihnen lag der Plages des Sables Rouges. Der rote Granatsand war an bestimmten Stellen angeschwemmt und zeigte den Verlauf der Strömung, wie sie unentwegt an Land züngelte. Noch war Flut und der Strand nur vom Wasser aus zu erreichen. Zwei junge Männer, die die Klippen entlang zum leeren Strand geschnorchelt waren, gingen an Land. Sie schauten den Hang herauf zu ihnen und riefen etwas, das sie nicht verstand. Die Burschen sahen sich an. Dann begannen sie mit ihren Füßen große Buchstaben in den Sand zu schreiben. Sie arbeiteten synchron. Einer links, einer rechts in einem bestimmten Rhythmus. Als sie fertig waren, blickten sie wieder zu ihr hinauf. PUTE stand im lodernden Sand und SALOPE. Salope kannte das Wörterbuch. Es bedeutete Schlampe. Das Wort Pute kannte sie. Sie trieb die Kinder hastig weiter. Sie protestierten, weil sie ihnen nicht sagen konnte, was da im Sand geschrieben stand.
    Endlich waren sie am Wasser. Die Strapazen hatten sich gelohnt. Der Küstenabschnitt des Naturschutzgebietes mit seinen Silikatschichten flirrte im Sonnenlicht. Der Schotter der Bucht bestand aus blauen, grünen und silbernen Steinen mit Einschlüssen von rotem Granat und dunkel glänzendem Pyrit. Ein breites Quarzband mit symmetrischen Linien zog sich über die Bucht. Das Wasser kräuselte sich an den in blauen und grünen Wellen gepressten Schichten des Glaukophans. Die Kinder waren vorausgelaufen. Steinreich sind wir, schrie der Bub. In jeder Bucht wurde der Schotter feiner, bis er im letzten Abschnitt als Sand an den Strand gespült wurde. Schwarze, rote und weiße Flammen. Sie hatte das Gefühl, endlich angekommen zu sein, und ließ sich fallen. Sie spürte, wie der feuchte Sand unter ihr nachgab und sich sanft um die schmerzenden Füße legte. Sie lag gut im Sand und wollte liegen bleiben. Endlich liegen bleiben. Dem Meer zuhören, und eins werden mit ihm.
    – Mama, rief das Mädchen aufgeregt, hier ist das Wasser ganz rot. Was ist das?
    – Ist ein totes Tier im Wasser?
    – Nein!
    – Siehst du ein Abflussrohr?
    – Nein!
    – Siehst du Algen?
    – Nein!
    – Dann ist es Nixenblut.
    – Nixenblut?
    – Das wisst ihr nicht?
    Es war Herbst, und ein junger Fischer rüstete sein Boot, um als Späher nach den Thunfischschwärmen Ausschau zu halten. Er stieß sich ab vom Ufer. Als er so weit hinausgerudert war, dass die Küste nur mehr ein schwarzer Strich war, hörte er einen seltsamen Gesang. Eine helle Stimme sang ein Lied in einer Sprache, die der Fischer nicht verstand, der Melodie nach war es ein trauriges Lied. Der Fischer folgte dem Klang. Plötzlich tauchte vor ihm ein Riff im Wasser auf. Auf dem Riff saß eine Frau mit wunderschönen langen Haaren. Sie sang. Rund um sie streckten Thunfische ihre silbernen Köpfe aus dem Wasser und wiegten sich mit den Wellen im Takt. Die Fische weinten. Neben der Frau auf dem Felsen lag eine Kappe aus Muscheln und Algen. Da wusste der Fischer, dass er eine Wasserfrau gefunden hatte. Wasserfrauen erkennt ihr daran, dass sie eine Kappe dabei haben. Mit ihr können sie unter Wasser atmen. Manche haben auch rote Schwimmhäute zwischen den Zehen. Als die Fische den Fischer bemerkten, stoben sie davon. Die Wasserfrau blieb sitzen und sah dem Fischer neugierig entgegen. Der Fischer hatte gehört, dass Wasserfrauen tüchtige Ehefrauen sind. Außerdem kennen sie das Meer und können so vor manchem Schiffbruch bewahren. Der Fischer fragte nicht lange. Er packte die Wasserfrau mit ihrer Kappe und brachte sie in sein Haus. Die Kappe versteckte er im Keller. Die Wasserfrau gebar dem Fischer zwei Kinder und führte den Haushalt. Sie war sehr tüchtig. An den Fenstern blitzten selbst gemachte Spitzenvorhänge, die Tür war blau gestrichen, im Haus lagen selbst gewebte blaue Teppiche, aus Algen konnte sie die besten Speisen kochen. Da fiel es nicht sonderlich ins Gewicht, dass sie stumm blieb, dass
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