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Hohe Wasser

Hohe Wasser

Titel: Hohe Wasser
Autoren: Eugenie Kain
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Vergangenheit sind stärker, und nur in Bruchstücken drängt sich die Gegenwart in die Wahrnehmung. Die Fischereigenossenschaft ist längst eine Aktiengesellschaft, das Storchennest am Schornstein der Fabrik verwaist, die besseren Hotels am Hauptplatz der kleinen Stadt sind renoviert, in der Schank der Brauerei spielt laute Computermusik, und im privaten Fischrestaurant würzen sie die Fische mit einem Fertigfischgewürz und halten es für Fortschritt, dass Wels und Karpfen, Aal und Hecht nach Glutamatpulver schmecken. Nur die Betonplatten auf den Fahrradwegen sind geblieben. Rechteckige Betonplatten, kreuz und quer durch Wälder, Moore und Wiesen gelegt, die Fugen geteert, befahrbar für schweres Gerät, um zu ernten und zu holen, was für den Betonplattenkommunismus notwendig war. Holz und Braunkohle, Fische und Heu. Die Arbeitsabläufe sind dieselben geblieben, aber eine andere treibende Kraft steckt jetzt dahinter.
    Sie haben mir den Urlaub aufgezwungen. Ich bin ihr Bester. Ich bin ihr Bester, weil ich die letzten Jahre durchgearbeitet habe, damit mir keiner mehr durch die Lappen geht. Jetzt haben sich Urlaubstage angesammelt, und schon wieder hatten wir ein Problem. Entweder du gehst, oder die Tage verfallen. Es ist schwer, es ihnen recht zu machen.
    Die vierte Woche radle ich jetzt über die Betonplatten, Kilometer für Kilometer vorbei an frisch gestrichenen Pferdekoppeln, verrosteten Traktoren, an Fischteichen, in denen sich die weißen Wolken spiegeln, und an Fischteichen, über die eine grüne Decke aus Wasserlinsen gezogen ist, vorbei an exakt ausgerichteten Fichtenstämmen, abgekämmte Heidelbeersträucher dazwischen und hier und da noch ein Pilz, aber ich steige nicht ab. An Wegkreuzungen treffe ich andere Radfahrer. Sie haben Karten dabei, fragen nach der Richtung und teilen Kilometerstände mit, die Grenze ist nicht weit, und viele sind auf der länderübergreifenden Weitwanderstrecke. Ich aber ziehe meine Kreise um die kleine alte Stadt, auf der Suche nach zufriedenen Gesichtern, auf der Suche nach dem Gesicht von Ludmilla.
     
    Die Gesichter sind mir abhanden gekommen. Genauer gesagt, das, was sie einzigartig macht.
    Die Lachfalten, die Sorgenfalten, das Grübchen am Kinn, der weiche Zug um den Mund, die fröhlichen Augenwinkel. Ich sehe Kerben in der Landschaft und Falten in der Zeit, aber nicht mehr in den Gesichtern. Begonnen hat es mit Kostič. Seine Gestalt ist hager. Sein Haar dunkel. Die Augen? Die Nase? Der Mund? Ich weiß es nicht. Kostič, noch immer kein Job? Noch immer kein Erfolg? Wo haben wir uns vorgestellt die letzten vierzehn Tage? Kostič hat geseufzt. Das war der entscheidende Moment. Wenn ich ihm jetzt zuhöre, schoss es mir durch den Kopf, dann hat er mich. Wenn ich ihm jetzt ins Gesicht sehe, ist es vorbei, und es bewegt sich nichts. Es geht nicht um Kostič persönlich, es geht um die Zahl, die er darstellt in unserer Statistik, und viele einzelne Zahlen machen eine große Masse aus. Um die Masse geht es, und nicht um Kostič. Kostič saß vor mir auf dem Sessel. Sein Gesicht glättete sich, eine ovale Kontur hinter dem Bildschirm meines Computers, eine ovale Kontur vor dem Regal mit den Akten. Kostič öffnete seinen Mund, ich aber hörte nur meine innere Stimme: Die Auflagen verdoppeln. Druck machen. Zu mir kommen viele Menschen. Meist sind es zwanzig am Tag, oft dreißig. Erfolgreich bin ich, wenn sie eines Tages nicht mehr zu mir kommen und nichts mehr wollen von uns. Meine Leute sitzen vor mir auf dem Sessel. Ich weiß, sie alle sind Fischblasenmenschen, sie werden versuchen, dem Druck auszuweichen oder ihn auszugleichen mit ihrem geheimen Organ, und dann entgleiten sie mir. Alle erzählen mir ihre Geschichte. Aber sie erreichen nichts damit. Sie erreichen mich nicht. Sie sitzen vor mir mit leeren Gesichtern und blanken Augen, die Worte steigen auf aus ihren Mündern wie die Luftblasen der Karpfen im Aquarium und zerplatzen an der Oberfläche. Ich sehe ihnen zu, sehe die Zahl, für die sie stehen, und gehorche meiner inneren Stimme. So gesehen, habe ich es Kostič zu verdanken, dass ich der Beste geworden bin. Der beste Vermittler des Hauses. Ich wurde geehrt, ausgezeichnet, als Vorbild hingestellt und an andere Schalter versetzt, wenn dort die Zahlen nicht stimmten.
    Kostič ist abgetaucht und wieder aufgetaucht. Er hat sich beschwert über mich. Sie haben ihm Recht gegeben. Jetzt ist ein anderer Vermittler zuständig für ihn. Dem seufzt er die Ohren voll und kassiert
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