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Hohe Wasser

Hohe Wasser

Titel: Hohe Wasser
Autoren: Eugenie Kain
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mehr möglich. Bei Besuchen gab es Mehlspeisen aus dem Cellophan oder den Nachtisch der alten Frau vom Mittagessen.
    Wasser, Wasser, warum gibt mir keiner Wasser?, stöhnte sie. Ein Liter Flüssigkeit pro Tag ist das höchste, sagten die Ärzte. Das Herz ist schwach. Es war heiß im Krankenzimmer. Früher hatte die Großmutter in Wellen gelegte lila schimmernde Haare. Jetzt standen ihr weiße Büschel wie nach fernen Signalen forschende Antennen vom Kopf ab. Die Zähne hatte man der Frau weggenommen. Über den Besuch des Kindes und die mitgebrachten Zeichnungen freute sich die Frau. Seine Mutter erkannte sie nicht. Bitte geben Sie mir Wasser, sagte sie zu ihr, oder ein Cola oder Tee. Die Mutter legte ihr ein feuchtes Tuch auf die Stirn. Sie wird nicht mehr gehen können, sagte die Ärztin auf dem Gang, aber sie weiß es nicht. Das Kind wollte die Hand der alten Frau halten. Fremde Finger zitterten über die Bettdecke.
     
    Das Kind faltete Papier. Vier Quadrate aus einem Quadrat, die Ecken umgebogen, die Kanten gefalzt. Glatt gestrichen, noch einmal gefaltet, auf das Zentrum zugebogen, umgedreht. Das flache Stück Papier wuchs zu einer Pyramide heran, die sich von der Spitze her in zwei Richtungen öffnen ließ. Das Kind holte Farbstifte. Die Pyramide verwandelte sich in ein Ungeheuer mit rotem Schlund. Das Ungeheuer würde den Durst vertreiben und die Krankheit verjagen. Das Ungeheuer fraß die Angst.
     
    Im Unfallspital konnte man für die Großmutter nichts mehr tun. Die Operation war überstanden, die Narbe verheilte zufrieden stellend. Für das schwache Herz und die Gebrechen des alten Körpers war dort niemand zuständig. Die alte Frau wurde in ein anderes Spital verlegt. Auch dort war es heiß im Krankenzimmer, auch dort wurde der Durst der Großmutter nicht gestillt. Die übrigen Frauen im Zimmer waren ungehalten, wenn die Großmutter nach Wasser schrie. Das Kind hatte Ferien, und die Eltern wollten ans Meer. Mit dem Schlimmsten war zu rechnen, aber wann es eintreten würde, mochte niemand vorherzusagen. Die Großmutter schenkte ihrer Umgebung immer weniger Beachtung. Sie wanderte durch die Zeit. Meistens hielt sie sich in der Kindheit auf, dann unter dem Kirschbaum, dann im Krieg. Manch mal tauchte sie auf in die Gegenwart des Krankenzimmers, wirkte erschrocken über Infusionsschläuche und Katheter und beschloss heimzugehen. Aber sie konnte sich nicht einmal aufrichten ohne fremde Hilfe.
     
    Das Kind sollte vor dem neuen Schuljahr noch ein paar unbeschwerte Tage haben. Man fuhr ans Meer, abrufbereit. Das Kind übte den Kopfsprung und stieß sich von scharfkantigen Felsen ab ins glatte Wasser, bis es atemlos war und müde. Das Kind lauschte dem Aufspringen der Kiefernzapfen und dem Strophengesang der Zikaden. Beim Kochen halfen sie zusammen. Das Kind schnitt Tomaten und ließ den Blasebalg fauchen und Funken sprühen für eine singende Glut. Das Kind fand die schwarzen Flecken im Sonnenball. Das Kind las in der Silberspur des Mondes auf dem Wasser. Das Kind lag unter freiem Himmel und erwartete die Sternschnuppen, bis die Augen brannten. Halt durch, flüsterte es in die Nacht, ich bin bald wieder bei dir. Die Großmutter nickte ernst.
     
    Wie viele Gesichter hat ein Mensch? Aus dem vertrauten Gesicht der Großmutter hatten sich Nase und Kinn spitz zu einem neuen Gesicht emporgearbeitet, die Haut spannte über den Schädel und gab den Verlauf der Schläfenadern preis. Krämpfe hatten sich in den Körper der alten Frau eingeschlichen und ließen sie nicht mehr zur Ruhe kommen. Weißt du, wer ich bin?, fragte das Kind. Butzi, keuchte die Frau mit starren Augen und konnte das Schütteln nicht vertreiben. Der Antennenkopf mit dem Nasenschnabel, die Vogelfinger, die Storchenbeine in den Socken, alle gehorchten sie über und unter der Bettdecke diesem fremden Rhythmus, der auf den Abflug einzustimmen schien. Das Kind legte der Großmutter die Hand auf den Bauch. Warm fühlte er sich an und unverändert weich. Noch immer trug er den Atem der Welt in sich, dieser Bärenbauch, der in Kleiderschürze und Nachthemd zuverlässig beschützt hatte vor Gespenstern, Kälte und Verlorenheit. Inmitten des zuckenden Chaos blieb er eine ruhende Mitte.
     
    Das Kind schrieb Zaubersprüche auf kleine Zettel. Knochen wurden heil. Krämpfe verebbten. Katheter und Schläuche rollten sich ein wie müde Katzen. Die alte Frau stand auf und ging heim. Für die Blüten des Kirschbaumes verbrauchte das Kind eine Tube Deckweiß. Sah man
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