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Hochsaison. Alpenkrimi

Titel: Hochsaison. Alpenkrimi
Autoren: Jörg Maurer
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bedauernswert, aber –«
    Skispringen ist halt nicht Halma, lag ihm auf der Zunge. Aber dieser Spruch war schon vergeben. Er musste sich endlich einen
     eigenen
claim
überlegen.
    »Wissen Sie, wie es dem Springer geht?«
    »Den Umständen entsprechend gut. Es wird nicht mehr lange dauern, dann wird er uns alle darüber informieren können, was wirklich geschehen ist«, sagte Harrigl ins Blaue hinein.
     
    Åge konnte, zumindest vorläufig, kein Licht ins Dunkel bringen, er war nicht bei Bewusstsein. Ein blitzendes Röhrchen steckte in seinem Hals, er war tracheotomiert worden und blubberte vor sich hin. Er war kurz davor, Odin kennenzulernen, den Gott mit den zwei Raben auf der Schulter, der die Toten in Asgard empfängt. Åge sah den Führer des wütenden Heeres schon mit dem Speer winken.
    Wo ist Thor?, wollte ihm Åge zurufen, doch die Stimme bröselte ihm weg. Ein schwitzender Oberarzt schüttelte den Kopf und murmelte das, was alle auf der Intensivstation dachten.
    »Unglaublich. Dass dieser Mann überhaupt noch lebt!«
    Die Aufzählung aller Befunde sprengte das Anmeldeblatt für die Notaufnahme des Krankenhauses. Allein die Liste der Frakturen schien die vollständige Liste aller menschlichen Knochen zu umfassen.
    Der »Trainer« Andersson war der einzige Mensch ohne Äskulapstab, der hineindurfte, aber auch nicht ganz hinein, er bekam die Erlaubnis, durch eine Glasscheibe von außen in den OP -Raum der Intensivstation zu schauen. Doch er sah wenig von Åge, der noch vor einer Stunde Adler gewesen war und jetzt zerfleddert auf dem Tisch lag. Als ein dienstbarer Geist in Grünblau kurz wegging, um ein silbernes Nierenschälchen auszuleeren, fiel Anderssons Blick auf das freiliegende Bein Åges und den offenen Schienbeinbruch, bei dem der Knochen frei herausstand und mit einem Wattebausch saubergetupft wurde. Im Hintergrund stand eine riesenhafte Gestalt, ebenfalls in Grünblau, die ein neues Blatt in die Knochensäge einspannte.

5
    Die ersten Gäste verließen die VIP -Lounge. Es war jetzt keine halbe Stunde her, dass Jusuf den Mann im Skianorak gesehen hatte. Das durfte doch nicht wahr sein: Er hatte auf jemanden geschossen, und dieser Jemand war spurlos verschwunden, nicht mehr aufzufinden, wie vom Erdboden verschluckt! So etwas hatte er noch nie erlebt. Er hatte auch noch nie von so etwas gehört. Er ging zu der Stelle, an der der Mann gestanden hatte. Wenn sich der Raum vollständig geleert hätte, würde er die Stelle unbeobachtet untersuchen. Er ließ die Ereignisse noch einmal Revue passieren, vielleicht hatte er etwas übersehen. Eine Pistole war in sein Gesichtsfeld gekommen, eine Pistole, die auf sein Objekt zielte, er hatte seine Zenelli gezogen und geschossen. Doch im Moment des Abdrückens, vielleicht auch erst eine Zehntelsekunde danach, war er von hinten gestoßen worden, unabsichtlich zwar, wie sich gleich danach herausstellte, aber doch so erheblich, dass er abgelenkt worden war. Ein übergewichtiger spanischer Bauunternehmer, der Rodríguez oder Gonzalez oder so ähnlich hieß, hatte sich, in jeder Hand ein Mobiltelefon, an ihm vorbeidrängen wollen. Jusuf hatte sich kurz umgedreht und erkannt, dass Gonzalez keine Bedrohung war. Der Spanier hatte so etwas wie
¡que te den por culo!
gesagt, was wohl eine spanische Entschuldigung war. Wo war sein Objekt? Jusuf hatte einen besorgten Blick in Richtung Kalim al-Hasid geworfen, doch der stand schon bei Rogge, redete auf ihn ein und formte gerade mit beiden Händen eine Schanze, die bis aufs Meer hinausreichte – dort also war alles
in bester Ordnung. Wo aber war der Mann im Skianorak geblieben? Der Angeschossene (oder, aus dessen Sicht, vielleicht auch glücklich Verfehlte) war von der Bildfläche verschwunden, hatte sich aufgelöst, so schnell, dass Jusuf kurz daran zweifelte, ob er die bedrohliche Szene wirklich beobachtet hatte. Das Tohuwabohu im Raum war noch stärker geworden, viele strömten hinaus, um die jetzt sicherlich zu erwartenden Interviews zu geben. Ein Kardinal in Zivilkleidung, Marianne und Michael in Strickjankern, der Landrat des Kreises, eine Olympiasiegerin im Biathlon, ein Fernsehkoch und der Ex-Drummer von den Guns N’ Roses – sie alle standen beieinander und diskutierten. Irgendwo hörte man auch den Satz »Skispringen ist halt nicht Halma«. Folglich war auch der Vorsitzende des Skiverbandes Oberbayern, Sven Ottinger, da. Oder einer, der noch keinen eigenen
claim
hatte.
     
    Jusuf hatte seine kleine Zenelli wieder
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