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Hirngespenster (German Edition)

Hirngespenster (German Edition)

Titel: Hirngespenster (German Edition)
Autoren: Ivonne Keller
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Nichts.
    »Frankfurter Rundschau.«
    Gott sei Dank. Ich hatte auf der Arbeit angerufen!
    »Hallo?«, rief es am anderen Ende der Leitung.
    Oh Gott, weswegen hatte ich angerufen, wen hatte ich sprechen wollen? »Ich … habe mich verwählt!«, rief ich, knallte den Hörer auf und starrte an die Wand. Wieder hatte ich das Gefühl, als entgleite mir alles, als schwebte ich im luftleeren Raum und versuchte, mich am Nichts festzukrallen. Schließlich erhob ich mich langsam und ging durch die Zimmer. So macht man es auch, wenn man im Keller steht und nicht mehr weiß, was in Gottes Namen man dort hatte holen wollen: Man geht dorthin zurück, wo man hergekommen ist, und es fällt einem wieder ein. Zack, ganz einfach.
    Im Wohnzimmer lief der Fernseher, und der Groschen fiel. Man brachte eine Reportage auf n-tv, von der ich meiner Kollegin hatte erzählen wollen. Das Programm hätte sie sicher interessiert, es ging um die Bezuschussung von Kindergartenbeiträgen durch den Arbeitgeber. Wir hatten uns mittags im Büro darüber unterhalten. Wie hatte ich das vergessen können? Und warum rief ich sie um diese Uhrzeit im Büro an? – Sie war mit Sicherheit gar nicht mehr dort.
    Dass meine Synapsen nicht mehr funktionierten, musste am Stress der letzten Wochen und Monate liegen. Dazu die unausgegorene Situation daheim, die im Raum stehende Aussprache mit Johannes. Alles zu viel auf einmal.

    In den darauffolgenden Tagen verlief alles so weit normal, die beiden Vorfälle gerieten fast in Vergessenheit. Bis Folgendes passierte: Mittlerweile war es Ende April, wir hatten ein paar warme Tage, und wenn ich Anna in Bad Orb besuchte, ging ich viel mit ihr im Klinikpark spazieren. Und weil es mir guttat, von allem den Kopf frei zu bekommen, holte ich eines Nachmittags Nils und Ole früher von der Krabbelstube ab und ging mit ihnen in den Zoo. Ich liebe den Zoo und freute mich darauf, den beiden die Tiere zu zeigen, mal einen Nachmittag mit ihnen zu verbringen, nachdem ich in letzter Zeit so oft abwesend gewesen war – wegen Anna und auch wegen Jens. Wir sahen uns die Tiere an, Nils konnte nicht genug bekommen von den Seelöwen, an deren Gehege wir uns eine ganze Weile aufhielten. Dann ging es weiter zur neuen Anlage für Löwen und Tiger. Schließlich gelangten wir an das Giraffengehege. Meine Füße schmerzten vom Laufen, und ich setzte mich auf eine Bank, um ein bisschen zu verschnaufen, zog den Kinderwagen an meine Seite und streichelte Oles zartes Gesicht.
    Zu uns gesellte sich eine alte Dame, die wenig Interesse an den Giraffen zeigte, sich dafür aber umso mehr für Nils begeisterte. Er jagte am Gehege entlang, rief »Tatütata!«, hopste und rannte und stolperte schließlich über seine Füße, so wie er es immer tat.
    Die Dame lächelte mich an und erkundigte sich mit Blick auf den Kinderwagen: »Wie heißen denn ihre beiden?«
    Ich öffnete freudig den Mund, um ihr zu antworten.
    Dann betrachtete ich hilflos meine beiden Söhne, und mir traten die Augen hervor. Ich schluckte und leckte mir über die Lippen. Um Gottes willen. Ich wühlte in meinem Kopf, versuchte, die verstreichenden Sekunden zu überbrücken, indem ich »Oh, sie haben sehr schöne Namen« faselte, schielte nach links unten auf den Boden, als hätte ich dort etwas Interessantes entdeckt. Der Blick der Dame folgte meinem, bis sie mich wieder ansah, irritiert, dennoch freundlich. »Ist Ihnen was?«, fragte sie.
    Mit tränenverschleiertem Blick schüttelte ich den Kopf. Mir war endlich eingefallen, wie meine Söhne hießen. »Sie heißen Nils und Ole«, gab ich Auskunft und lächelte traurig. Dann erhob ich mich, rief Nils zu mir und ließ die alte Dame einfach sitzen.
    Geschockt beeilte ich mich, nach Hause zu kommen; dort legte ich mich erst mal aufs Sofa.
    Wie konnte ich die Namen meiner Kinder vergessen? War ich dement? Wohl kaum, sagte ich mir, Demenz ist doch eine reine Alterserscheinung. Ich rief Jens an, voller Angst, ich könne auch seinen Namen plötzlich vergessen oder meinen eigenen, ein sabberndes Wesen, hilflos mitten in Frankfurt.
    Er lachte mich aus. »Vielleicht kam es dir so vor, als hätte das eine Ewigkeit gedauert, weil die Frau dich angesehen hat. Aber ich kann mir das nicht vorstellen – nicht in deinem Alter.«
    Dabei hatte ich ihm schon von den anderen Vorfällen berichtet und dabei selbst darüber gelacht. Diesmal jedoch war mir angst und bange geworden, und ich schwor mir: Sollte das noch ein einziges Mal passieren, dann würde ich zum
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