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Hirngespenster (German Edition)

Hirngespenster (German Edition)

Titel: Hirngespenster (German Edition)
Autoren: Ivonne Keller
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»Darf ich sie mal auf den Arm nehmen?«
    Bevor Sabina ihr antworten kann, rufe ich begeistert »Jaaa!« und strecke meine Arme nach ihr aus.
    Sabina starrt mich an und schüttelt den Kopf.
    Ja, da guckst du.
    Ich weiß, sie hätte es auch gerne, dass ich mich zu ihr auf den Schoß setze, weil ich das sonst nie tue, sondern immer schnellstens von ihrem Schoß hinabrutsche. Dabei denke ich oft genug darüber nach, ob ich es wagen sollte. Zu sehen, wie es sich anfühlt, ganz eng in ihrem Arm zu sein und mit ihrem Haar zu spielen, so wie Johannes es immer tut. Ihr Haar schimmert in der Sonne in einem warmen Goldbraun. Manchmal sehne ich mich danach, mit ihr zu schmusen, von ihr liebkost und gestreichelt zu werden.
    Aber jetzt ist erst mal Anna dran. Ich lasse mich von ihr auf den Schoß nehmen und rolle mich darauf zusammen wie ein Kätzchen.

Silvie
    Den ersten Aussetzer hatte ich, als ich in meinem Wagen auf dem Rückweg von Annas Klinik war. Ich hatte ein Gespräch mit ihrem Arzt geführt, in dem er mich über die Wirkungsweisen ihrer Medikamente aufklärte: Morex dämmte das Zählen ein, allerdings mit der Nebenwirkung, emotionslos zu machen. Freude oder Empathie hatten keinen Platz mehr im Leben der Patienten. Und Ramosan wirkte wie eine Stahltür zur Angst. Es schloss die Ängste weg, als wären sie nie dagewesen. Die Patienten erinnerten sich nicht einmal mehr an ihre Ängste. Sobald jedoch die Wirkung nachließ, flog die Tür auf, und die Angst griff nach ihnen.
    Oh Gott, dachte ich wieder, die Arme. Dafür, was sie alles durchgemacht hatte, schlug sie sich verdammt tapfer. Ich kannte keinen anderen Menschen, der einen solchen Überlebenswillen hatte. Bei meinem nächsten Besuch würde ich ihr den Kopf waschen, ihr einmal aufzählen, wie viel sie schon erreicht hatte. Sie war mittlerweile bei zwei Tabletten am Tag angelangt – das war doch eine Leistung! Und den Rest würde sie auch noch schaffen.
    Meinen Gedanken nachhängend, fand ich mich plötzlich auf der Autobahnabfahrt in Richtung Hanau wieder, blickte aus der Windschutzscheibe und dachte: Moment mal, was will ich denn hier? Ich sollte doch auf der Autobahn in Richtung Frankfurt unterwegs sein, auf einen kurzen Abstecher zu Jens in den Dornbusch. Die Musik war zu laut, ich drehte sie runter – so konnte man nicht denken. Sprachlos steuerte ich auf die Ampel am Ende der Schnellstraße zu, mein Herz klopfte. Wohin wollte ich nochmal? Hatte ich mich verfahren? Nein, das war es nicht. Ich hatte etwas gewollt hier – nur was? Ich kratzte mich am Kopf und fuhr wieder an, als die Ampel auf Grün umsprang. Abbiegen oder geradeaus? Ich blickte in den Rückspiegel. Wohin um Himmels willen war ich denn nur unterwegs? Wollte ich zu IKEA? Scheiße. Schließlich fuhr ich geradeaus, hilflos und auch etwas panisch. Was war das denn? Klar, dass man ab und zu vergisst, was man gerade aus dem Keller holen wollte oder aus dem nächsten Zimmer. Aber dass man aus der Windschutzscheibe blinzelt und einem nicht einfallen will, wohin man gerade fährt? Nicht gerade normal. Es hatte ein bisschen was von Achterbahnfahren im Dunkeln. Ich dachte, jede Sekunde kracht es, als raste ich eine Böschung hinunter und verlöre die Kontrolle über den Wagen. Ich fuhr, und wusste nicht, wohin es ging. Würde ich als Nächstes abbiegen? Keine Ahnung!
    Erst als ich von weitem die Tankstelle auf der rechten Straßenseite erblickte, kam es mir wieder in den Kopf. Tanken, Silvie, Du wolltest tanken und dann auf die Autobahn! Der Schreck saß mir in den Gliedern, ich steuerte auf die Tankstelle zu, stieg mit wackligen Knien aus und griff nach dem Zapfhahn.

    Nur wenige Tage später stand ich abends mit dem Telefonhörer am Ohr in der Küche. Am anderen Ende der Leitung klopfte es an, und wie man das so macht, bereitete ich mich geistig auf die Begrüßung vor. Dann blickte ich auf den Hörer in meiner Hand. In der Leitung tutete es, jeden Moment musste jemand rangehen. Nur – wer?
    Äh? Ich nahm den Hörer wieder ans Ohr, blinzelte und überlegte fieberhaft. Bei wem rief ich nochmal an? Bei Jens? Sicher nicht von hier aus. Vielleicht bei meinen Eltern? Der Telefonhörer in meiner feuchten Hand verwandelte sich in eine Art Wundertüte, die Spannung stieg: Wer würde sich gleich am anderen Ende der Leitung melden? Fieberhaft schaute ich mich um, versuchte verzweifelt, einen Anhaltspunkt auf dem Küchentisch zu finden, der mir Aufschluss darüber geben könnte, mit wem ich hatte sprechen wollen.
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