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Der Fluch von Colonsay

Titel: Der Fluch von Colonsay
Autoren: Kaye Dobbie
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    Der Feuerball der Sonne war hinter dem Horizont versunken. Jenseits der Bucht leuchteten die Wolken orange und rot über den Gipfeln der You-Yang-Berge. Eine Szenerie von fast überirdischer Schönheit. Alice Parkin sah hinüber zur Weide, auf der die Schafe lange Schatten warfen. Sie tat so, als schüttelte sie nur das weiße Damasttischtuch aus, aber eigentlich genoss sie die abendlich kühle Luft vom Wasser her und diesen kurzen Augenblick der Freiheit. Hinter ihr ragte, stets gegenwärtig, das Anwesen von Colonsay empor. Ein großer, drohender, Angst einflößender Schatten. Glücklich war sie nicht in diesem Haus. Und da sie jetzt seit einem Monat dort lebte, wusste sie, dass sie hier auch nie glücklich sein würde.
    »Du wirst dich damit abfinden müssen«, hatte ihr Vater mitleidslos gesagt. »Wir können nicht mehr für dich sorgen, Alice. Du musst deinen eigenen Lebensunterhalt verdienen. Schließlich bist du schon zwölf.«
    Nur ihre Mutter litt mit ihr. Schließlich war Alice’ Lehrerin mehrmals bei ihr gewesen, um sie auf die überdurchschnittliche Begabung ihrer Tochter hinzuweisen. Aber der Vater meinte nur, Klugheit sei überflüssiger Luxus. Was könnte sie einem Mädchen wie Alice schon nutzen? Kraft und körperliche Ausdauer, das war es, was sie brauchte.
    Mira Parkin streckte ihren schmerzenden Rücken und wandte sich mit einem fragenden Gesichtsausdruck ihrer Tochter zu. »Mrs Cunningham ist doch nett. Und die Kinder sind gar nicht so übel. Du weißt ja, wie das so ist, du hast genügend Brüder und Schwestern.«
    Ja, Alice wusste, wie das so war. Sie blickte zu ihren Geschwistern hinüber und wünschte sich, immer noch eine von ihnen zu sein. »Ja, Mutter, sie sind nicht übel.« Das war es, was ihre Mutter hören wollte, wusste Alice.
    Spürbar fiel die Anspannung von ihrer Mutter ab, als sie tief ein- und ausatmete. Dabei straffte sich die einfache Leinenbluse über ihrer flachen Brust. »Na also«, murmelte sie. »Dann ist das entschieden, Liebes.«
    »Tja, damit war es entschieden«, flüsterte Alice jetzt und verspürte einen kleinen Stich in ihrem Inneren. Sie schüttelte das Tuch ein letztes Mal kräftig aus und drehte sich, da sie es nicht mehr hinauszögern konnte, Richtung Haus um.
    Colonsay war ein zweistöckiges Gebäude aus solidem Sandstein, mit einem quadratischen Grundriss und einer breiten Vorderveranda. Links und rechts des Weges zur Eingangstür waren geometrische Beete angelegt. Mrs Cunningham legte mehr Wert auf einen gepflegten Zugang zum Haus als frühere Hausherrinnen, und ihr Mann hatte ihr dafür allerlei exotische Pflanzen besorgt. Doch der alte Geißblattstrauch war geblieben, und seine Ranken umschlangen die Verandapfosten und reichten bis hinauf zum Dach. Der erste Cunningham, so hieß es, hatte einen Steckling aus dem fernen China mitgebracht und dort neben den Eingang gepflanzt. Alice liebte den süßen, schweren Duft.
    Die Anfänge des Hauses reichten zurück bis ins Jahr 1830. Bauherr war derselbe Cunningham gewesen, der auch das Geißblatt gepflanzt hatte, Cosmo Cunninghams Großvater. Als er sich damals auf der Bellarine-Halbinsel niedergelassen hatte, hatte es dort nichts gegeben außer seinen Schafen. Der Kern des Hauses war seitdem trotz Cosmos umfangreicher Anbauten und Veränderungen unberührt geblieben. Im Keller gab es sogar noch einen alten, steingefassten Brunnen. Manchmal sandte die Köchin, Mrs Gibbons, Alice dort hinunter, um Wasser zu holen. Das Wasser des Brunnens schmeckte nämlich besonders frisch.
    Dunkelheit hatte Alice schon immer verstört, und nun schien Colonsay eine ähnliche Wirkung auf sie zu haben. Wäre sie so dumm und fantasielos gewesen, wie ihre Eltern sie sich gewünscht hatten, hätte sie die unterschwellige Bedrohung vielleicht gar nicht wahrgenommen. Sie konnte zwar nicht erklären, was genau sie beunruhigte, aber sie spürte, dass da etwas war.
    Das Haus war von Leben erfüllt, mit dem Lärm und der Unruhe, die die häufigen Gäste mit sich brachten. Mr Cunningham befand sich manchmal wochenlang auf Reisen, doch wenn er im Hause weilte, brachte er stets Gäste mit und gab viel Geld für sie aus. Einmal hatte Alice gehört, wie jemand verächtlich sagte, Colonsay sei eher ein Hotel als ein Zuhause. Die aufwendige Bewirtung erschien ihm wohl übertrieben. Als sie dann Mrs Gibbons gefragt hatte, was das bedeuten sollte, hatte sie als Antwort nur eine Kopfnuss und die strenge Anweisung bekommen, sich um ihre eigenen
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