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Der Fluch von Colonsay

Titel: Der Fluch von Colonsay
Autoren: Kaye Dobbie
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seine Augen blitzten. Warum sollte Cosmo denn nicht Premierminister werden? Alice fände das nur angemessen.
    »Alice?« Meggys Stimme durchdrang ihre Gedanken. »Alice, was ist denn?«
    »Nichts«, antwortete Alice schließlich. »Ich bin nur müde, und mir tun die Füße weh.« Sie zog einen Flunsch und streckte die Füße unter dem schweren Rock hervor. Meggy gab einen Laut des Mitgefühls von sich. »Triffst du dich heute Abend mit Jonah?«, fragte Alice und sah ihre Freundin von der Seite an.
    »Vielleicht.« Meggy zuckte mit den Schultern. Jonah war Meggys Halbbruder. Er hatte früher als Viehtreiber auf dem Land der Cunninghams jenseits des Murray River gearbeitet. Dort zog sich das flache Land endlos hin, bis zum Horizont, und die Sonne brannte heiß vom wolkenlosen Himmel. Cosmo war letztes Jahr im Juni dort gewesen, um die Auswirkungen der Dürre zu begutachten, die man allgemein die Staatenbund-Dürre nannte. Er hatte Jonah nach Colonsay mitgebracht.
    Meggy und Jonah hatten dieselbe Aborigine-Mutter, aber nicht denselben Weißen zum Vater. Sie ähnelten sich nicht sehr, nur die Form ihrer Augen und ihr Lächeln glichen einander. Jonah hatte eine Missionsschule besucht und sprach wie ein vornehmer Herr, wohingegen Meggy in der Küche der Viehstation gearbeitet hatte.
    Alice liebte Meggy, aber in Jonahs Gegenwart sträubten sich ihr die Nackenhaare. Ähnlich wie bei Cleo, wenn sie eine Maus roch. Er bewegte sich so geräuschlos, dass sie misstrauisch wurde. Und manchmal, wenn sie etwas erzählte, schien er sich über ihre Geschichten zu amüsieren. Das fand sie anmaßend. Schließlich hatte ein Halbblut-Viehtreiber wohl kaum einen Grund zur Überheblichkeit, oder?
    »Bertie ist nur noch zwei Wochen hier«, sagte Alice auf einmal zusammenhanglos.
    Meggy kicherte nur.
    »Ich werde ihn vermissen. Er ist wie ein Bruder für mich.«
    »Warte nur ab, in ein paar Jahren schaut er auf dich runter wie auf einen Haufen Hundekacke. So wie alle anderen auch.«
    »Meggy, du solltest solche Ausdrücke nicht benutzen.«
    »Ist doch wahr.«
    Aber Alice konnte nicht glauben, dass Bertie Cunningham jemals auf sie herabsehen würde. Sie waren Freunde und vertrauten einander. Nein, Bertie blieb ihr Kumpel – egal, was passierte. Er hatte versprochen, ihr zu schreiben. Das wäre zwar nicht dasselbe wie ein Gespräch, aber wenigstens ein Lichtblick.
    Cosmo ging mit seinen Gästen endlich in die Bibliothek hinüber. Die Mädchen räumten das Esszimmer auf, trugen schmutziges Geschirr und Besteck in die Spülküche. Mrs Gibbons überließ ihnen die ganze Arbeit und begab sich gähnend zu Bett, als ob sie todmüde sei. Doch später, als die Mädchen in der ruhigen Wärme der Küche noch beieinandersaßen, hörten sie, wie die Tür des Nebeneingangs leise geöffnet und wieder geschlossen wurde.
    Meggy grinste. »Ein kleiner Ausflug?«, flüsterte sie. Sie riss ihre haselnussbraunen Augen weit auf, um ihre Verwunderung auszudrücken. Eine Angewohnheit, die sie von Jonah übernommen hatte.
    Alice schürzte die Lippen und antwortete nicht. Es war eine Sache, etwas zu denken, aber eine ganz andere, es auch auszusprechen. Mrs Gibbons könnte ja einfach spazieren gegangen sein, weil sie nicht schlafen konnte. Und wenn sie ihr Weg genau zu dem Stück Sumpfland führte, wo der alte Harry Simmons seine Hütte hatte – was war denn schon dabei?
    Es war wie mit dem Rosenknopf, den sie in Ambrosines Schlafzimmer gefunden hatte und der zu Mr Marlings Weste gehörte. Manche Gedanken fasste man besser nicht in Worte.
    »Du bist ein nettes Mädchen«, sagte Meggy in diesem Moment, als ob sie ihre Gedanken lesen könnte. »Aber du darfst deine Augen nicht verschließen. In diesem Haus gehen böse Dinge vor sich, von denen du dich besser fernhältst. Böse Dinge, hast du gehört?«
    Später, kurz vor dem Zubettgehen, lehnte sich Alice aus ihrem Fenster und sah hinauf zum Mond, der über den Weideflächen stand. Er war riesig in dieser Nacht, ein gigantischer leuchtender Wackelpudding. Alice hatte gehört, dass es einen verrückt machen sollte, wenn man direkt in den Vollmond sah. Doch sie glaubte solche Märchen nicht und fühlte sich fast körperlich angezogen von dem Erdtrabanten. Über ihr, im Zimmer der Gouvernante, knarrten die Dielen und murmelte eine Stimme. Dann war es plötzlich wieder still. Jenseits des Weidezauns sah Alice eine gedrungene Gestalt mit wehendem Rock auf das Haus zukommen – Mrs Gibbons. Sie steuerte auf den Nebeneingang
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