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Generation Laminat - mit uns beginnt der Abstieg

Generation Laminat - mit uns beginnt der Abstieg

Titel: Generation Laminat - mit uns beginnt der Abstieg
Autoren: Kathrin Fischer
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Idyllische Zeiten
    »In die fetten Jahre reingeboren«
    Für meinen Bruder war unsere Neubausiedlung das Paradies. Er war sechs Jahre alt und Teil einer Geheimgesellschaft, die sich Nachbarkinder nannte. Ihre sichtbaren Unternehmungen bestanden darin, mit auf den Hosen aufgemalten Colts auf ihren Bonanzarädern durch die Gegend zu flitzen, die Straßen mit ihrem Rollhockey zu blockieren oder die Tomaten in den Schrebergärten auf ihre Funktion als Wurfgeschosse mit spektakulärer Aufprallwirkung zu testen. Ihre unsichtbaren Unternehmungen waren noch gefürchteter. Ein mannshohes unterirdisches Tunnelsystem zu graben, sehr geheim und sehr instabil. Mit Streichhölzern und Brennspiritus in der sorgfältig von innen verschlossenen Garage zu experimentieren. Sich kurz bevor die Müllabfuhr kam in der Tonne zu verstecken.
    Meine Mutter zuckt immer noch zusammen, wenn mein Bruder von seiner glücklichen Kindheit im Neubauviertel schwärmt.
    Ich dagegen habe es gehasst. Die Siedlung war die reine Verkörperung normierter Mittelstandsidyllen. Überall Vater-Mutter-zwei-Kinder-Familien in frei stehenden Einfamilienhäusern, weiß verputzt, mit einem Gartenzaun, hinter dem immer irgendetwas kläffte. Nirgends ein buntes Haus. Nirgends ein wilder Garten. Nirgends ein lebender Mensch. Lauter angepasste Zombies. Ich nahm unsere westdeutsche Neubausiedlung im gängigen Vorurteilsraster einer Hermann-Hesse-lesenden Zwölfjährigen wahr.
    Mein Vater war auf einer Dienstreise bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Wir bekamen eine betriebliche Hinterbliebenenrente, die uns, zusammen mit dem, was meine Mutter als freie Mitarbeiterin einer Tageszeitung verdiente, ein einigermaßen sorgenfreies Leben bescherte. Das Haus konnte – auch dank einer Erbschaft – fertig gebaut werden, der Garten angelegt, ein Pferd gekauft werden. Vor dem Haus stand allerdings immer irgendein verbeultes Auto japanischer Herkunft, das innen so verdreckt war wie kein anderes Elternauto. Meine Mutter hatte als Kind mit ihrer Familie aus Polen fliehen müssen – gemeinsam mit dem Dienstmädchen. In Polen waren sie wohlhabend gewesen, in Deutschland wurden sie als »Flüchtlinge« und »Polackenschweine« abgelehnt und gedemütigt. Das hat meine Mutter der bürgerlichen Gesellschaft nie verziehen. Bei uns waren immer die willkommen, die die »anständigen« Leute ablehnten. Stromernde Katzen, auffällige Jugendliche, ausländische Familien. Statt einer Geschirrspülmaschine hatten wir Originale an den Wänden. So sahen die Prioritäten meiner Mutter aus. (Ich habe nie wieder in meinem Leben so viel Geschirr gespült wie bei uns zu Hause). Wenn schon sonst alle genormt waren in der DIN-Idylle unserer Neubausiedlung: Wir waren es nicht. Wir fegten samstags nicht die Straße. Wir wuschen samstags auch nicht das Auto. Wir engagierten uns nicht im Dorfverschönerungsverein, sondern bei Amnesty International. Wir gehörten nicht dazu. Und zwar, weil wir nicht dazugehören wollten und nicht etwa, weil wir nicht dazugehören konnten. Ein entscheidender Unterschied, den ich damals noch nicht als entscheidend wahrnahm.
    Auch wir besaßen einen großen Holzesstisch, an dem wir uns zum Essen versammelten, auch wir fuhren jedes Jahr in den Sommerferien auf eine Nordseeinsel in Urlaub, auch wir tranken Rotwein vorm Kamin, während das unvermeidliche »Köln Concert« von Keith Jarrett lief. Wir hatten zwar keine Durchreiche von der Küche zum Esszimmer, aber ansonsten führten wir ein ganz normales Mittelschichtdasein.
    Als außergewöhnlich privilegiert habe ich dieses Leben nie empfunden – und doch weiß ich noch, wie entsetzt ich war, als ich in der zwölften Klasse eine Schulkameradin besuchte, deren Vater Polizist war, und die mit ihren Eltern und ihren beiden Geschwistern in einem der Hochhäuser am Stadtrand in einer Mietwohnung wohnte, die von grauem Teppichboden und einer Tiefkühltruhe dominiert wurde. Ich hatte bis zu diesem Besuch überhaupt nie realisiert, dass jemand nicht in einem eigenen Haus wohnen könnte. In unserem Neubauviertel gab es keine Mietwohnungen.
    Ich bin in relativem Wohlstand aufgewachsen, ohne diesen zu bemerken. Ich bin in relativer Sicherheit aufgewachsen, ohne diese zu bemerken. Und ich bin in relativer sozialer Durchlässigkeit aufgewachsen, ohne sie zu bemerken – dass Kinder aus den Mietwohnungen am Rande der Kleinstadt das Gymnasium ebenso besuchten wie die Arztsöhne und -töchter aus den umliegenden Villen am Hang, das war
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