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Hirngespenster (German Edition)

Hirngespenster (German Edition)

Titel: Hirngespenster (German Edition)
Autoren: Ivonne Keller
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des Geldzählens traf sie Matthias. Er übernahm die Finanzen, sorgte für die passende Fassade und dafür, dass die Geschäfte gutliefen. Er war politisch und gesellschaftlich aktiv und sorgte fürs Image. Anna hatte ihren Teil dazu beizutragen, Haus und Garten in Ordnung zu halten, die Kinder zu beschäftigen, sie zu wohlgeratenen Bürgern zu machen. Sie erfüllte Matthias' Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung – auch das dritte Kind war ein solches Ziel. Und danach? Galt es Ordnung zu halten. Mit Kindern keine leichte Aufgabe, besonders nicht mit dieser Sorte Kinder. Sie zählte wieder. Und der vermeintliche Krebs kam wieder, in Form eines schlechten Abstrichs. Geld konnte sie nicht mehr zählen, aber Joghurtbecher, Bücher, Blätter an den Bäumen. Sie wischte und bildete kleine Stapel. Die Ordnung wiederherzustellen, das wurde zu ihrem neuen tagtäglichen Ziel im Kampf gegen die Todesangst in ihr. Ein Zwang, der sie verzweifeln ließ, da die Kinder immer wieder alles in Unordnung brachten, was sie eben noch hergerichtet hatte. Und dann die Unfähigkeit, sich selbst oder die Kinder zu versorgen. Die Pillen halfen ihr beim Gang in den Kindergarten, beim Bezahlen an der Kasse, bei der Angst, ihr werde das Portemonnaie herunterfallen oder sie könne vor Zittern die EC-Karte nicht in den Schlitz des Kartengeräts stecken. Und dann die Fragen, die noch immer ungeklärt im Hintergrund lauerten, die Fragen nach unbezahlten Raten und einer Klage. Und schließlich die Erkenntnis, die sie gehabt haben muss: Wäre Matthias weg, gäbe es keinen Druck mehr in ihrem Leben.

    Ich erzählte meinen Eltern nie die Wahrheit, nachdem ich sie kannte. Selbst Anna gegenüber habe ich nie erwähnt, dass ich Bescheid wusste. Wie viele Tabletten sie täglich eingenommen hatte, das konnte selbst sie auf dem Fragebogen in der Klinik nicht angeben, obwohl es ihre Pflicht gewesen wäre. Vermutlich hat sie die Dosis stetig erhöht, erst recht, als sich die Probleme mit Matthias häuften. Morex für den Notfall, Ramosan als Langzeitmittel. In der Mischung durchschlagend, im wahrsten Sinne des Wortes. Abhängig machten beide. Eigentlich hätte sie nur noch kotzen müssen, und vielleicht tat sie das sogar. Aufgeschwemmt war sie nicht, das hätte man erwarten können. Jens erzählte sie, dass sie an manchen Tagen sogar eine Ramosan nehmen musste, um überhaupt in der Lage zu sein, morgens aufzustehen. All das hat sie ihm erzählt, als er an ihrem Bett saß und ich mit der Polizei zugange war. Ich war traurig, dass sie sich nicht mir anvertraut hatte, sondern ihm. Andererseits – er stellte wenigstens keine Fragen. Hörte nur zu.
    »Manchmal hatte sie Angst, dass sie stottern müsste, wenn sie ein längeres Gespräch vor sich hatte«, sagte Jens.
    »Dabei hat sie noch nie in ihrem Leben gestottert«, antwortete ich.

    Seitdem ich von meinem mittäglichen Schläfchen aufgewacht bin, warten wir auf jemanden. Die angeknabberten Nussecken stehen vor uns auf dem Esstisch – mich hat man in sicherer Entfernung platziert. Sabina war in Geschrei und Tränen ausgebrochen, als sie die Misere entdeckte. Erst nach einer Weile schnallte ich, dass es Lachtränen waren, die ihr über die Wangen liefen, und dass es sich bei dem Geschrei um Gelächter handelte. Sie nahm mich sogar in den Arm und küsste mir das Gesicht ab, sagte, ich sei so eine furchtbar Süße und sie könne mich fressen, weil ich so niedlich sei. Na, na, na!
    Anschließend hat sie mir Gesicht und Hände abgewaschen und die Tischdecke in die Wäsche gefeuert, immer noch lachend. Versteh‘'einer Sabina! Mal gut gelaunt, mal nicht! Ich hätte erwartet, dass sie mit mir herumbrüllt, aber nein, sie lacht sich halb tot.
    Anschließend hat sie alle Ecken mit dem Messer gerade gestutzt und nochmal in Schokoguss getaucht. Anscheinend sollen unsere Gäste die angeknabberten Ecken genießen. Mir soll es recht sein. Ich stelle mich einfach doof.

    Es klingelt, und Nils und Ole rennen zur Tür. Jemand kommt schnaufend die Treppe rauf, ich kenne das Schnaufen, es klingt wie eine kleine Dampflok. Olga! Die Gute! Ich sitze auf meinem Stuhl, will aufstehen, da ist sie auch schon im Esszimmer und umarmt mich. »Mein Engel«, sagt sie und drückt mir einen feuchten Kuss auf die Wange. Dann wendet sie sich Sabina zu und fragt: »Spricht?«
    Sabina schüttelt den Kopf. »Keine Veränderung. Obwohl, letztens sagte sie ›gut‹.«
    Olga betrachtet mich anerkennend. Doch dann überlegt sie es sich anders.
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