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Die Prinzen von Queens - Roman

Die Prinzen von Queens - Roman

Titel: Die Prinzen von Queens - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Teil 1
1
Kleine runde Pillen
    Mitten in Alfredo Batistas Hirn steht ein großer grauer Aktenschrank, der häufig geöffnet wird. Die Schubladen sind tief, die Hängemappen prall gefüllt mit einem Leben voller bedauerlicher Augenblicke. Irgendwo ganz hinten steckt eine Liste der Frauen, die er nie um ihre Telefonnummer gebeten hat. Dann die der aufgelaufenen Schulden. In der untersten Schublade, in separaten Mappen, die Dinge, die er nie gelernt hat: Auto fahren, einen Knuckleball werfen, nur mit der Zunge einen Knoten in einen Kirschstiel machen. Was noch? In der obersten Schublade findet sich ein Akte, die den Abend dokumentiert, an dem er das Spiel der Mets in der Annahme, der Run-Rückstand sei unaufholbar, frühzeitig verlassen hatte. Dort hängt auch die Warum-habe-ich-kein-Kondom-benutzt-Mappe. Und die überraschend dünne Verbrechen-an-meinem-Bruder-Mappe. Alfredo ist erst neunzehn, und bereits jetzt quillt der Schrank über vor Akten, von denen keine Staub ansetzt, denn in jede wird routinemäßig Einsicht genommen. Als Anlass genügt ein beiläufiges Wort, ein Gesicht im Vorbeigehen, und schon kommt eine Erinnerung hoch, geht eine Schrankschublade auf. Ein Bibliothekar für interkranielle Forschungen (Alfredo stellt ihn sich bebrillt, mit ausgefransten Hosenaufschlägen und Schuppen auf den Schultern vor) watschelt zu der offenen Schublade, zieht die richtige Akte heraus und leitet sie an die personell gut ausgestattete und effizient geführte Abteilung für Bedauern weiter. Dort betrachtet Alfredo die Mappe eingehend, er kann nicht anders. Er rekonstruiert die mit der Begebenheit verbundenen Sinneseindrücke. Mit krankhafter Akribie geht er durch, was gesagt und, natürlich, was nicht gesagt wurde. Verkettet die Ereignisse erneut.
    Eine neue Akte muss angelegt werden. Sie wird mit dem heutigen Datum versehen, 14. Juni 2002, darüber kommt in klotzigen Großbuchstaben ein Name: SHIFRIN, VLADIMIR.
    »Wer ist Vladimir Shifrin?«, sagt Alfredo.
    Winston, ein dunkelhäutiger Haitianer mit langen, feingliedrigen Fingern, zieht den Schirm seiner Spiderman-Kappe tief ins Gesicht, schaut über die Schulter, senkt die Stimme zu einem konspirativen Wispern. »Soweit ich weiß«, sagt er, »ist Vladimir ein Drogendealer.«
    »Deshalb rufst du mich an?«, sagt Alfredo. »Weckst mich? Schleppst mich hierher?«
    Sie sitzen eng nebeneinander auf einer Holzbank im Travers Park, Jackson Heights. In Queens gibt es noch andere Parks wie den Astoria Park oder Flushing Meadows, in denen man unter einem Baum dösen oder die Nase in trompetenförmige Blumen stecken kann. Diese Parks bezeichnen die Reiseführer möglicherweise als idyllisch. Man kann dort sogar Gras aus der Erde rupfen. Aber hier in Jackson Heights sind Parks wie der Travers Asphaltparks, geteerte Spielplätze. Hier gibt es keine Blumen oder Schmetterlinge, was allerdings niemanden abschreckt.
    Es ist gerade zwei Uhr nachmittags – ein schöner, für die Jahreszeit ungewöhnlich kühler Freitag im Spätfrühling – und der Travers ist rappelvoll. Alle sind da. Mit Kind und Kegel. Es wird Fußball gespielt, Hand-Ball, Versteinern, Skilo und Skully. Man muss sich nur umschauen. Männer ohne Hemd spielen Basketball ohne Netz. Ein Vater macht Fotos von seiner kleinen Tochter, eine Chinesin tanzt zu den wasserartigen Rhythmen des Tai Chi, Teenager luchsen dem Nachbarschaftstrottel Zigaretten ab, Bienen, besoffen vor Vergnügen, schwärmen am Boden der Abfalleimer. Die Schaukeln quietschen. Ein alter Jude, Max Marshmallow, ein Freund von Alfredo, setzt einen anderen alten Juden schachmatt, aus dessen Körper alle Luft entweicht wie aus einer geplatzten Tüte Chips. Ein kleiner weißer Junge, seltsam still, hat den Kopf durch die vertikalen Streben eines Zauns gesteckt, und Alfredo muss unwillkürlich an seinen Bruder denken, der neuerdings Tariq heißt und gerade seine letzten Stunden in der Strafanstalt Fishkill absitzt. Auf dem Softballfeld spielen Pakistaner Kricket. Auf einer Bank in der Sonne trinken die Mexikaner, die der Arbeiterlaster an diesem Morgen nicht aufgelesen hat, einen Schluck aus ihrer braunen Papiertüte. Und in der Mitte des Parks, bei den Sprinklern, hockt eine gigantische Schildkröte aus Stein, als wäre sie vor Tausenden von Jahren von den Galapagosinseln Richtung Norden aufgebrochen und hätte beschlossen, hier Halt zu machen, mitten in einem Park im westlichen Queens, weil ihr die Gesellschaft kleiner Kinder und die gelegentliche Dusche mit
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