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Hirngespenster (German Edition)

Hirngespenster (German Edition)

Titel: Hirngespenster (German Edition)
Autoren: Ivonne Keller
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Prolog
    In dem Moment, als ich mit dem Kopf auf den Beton aufschlug, bereute ich, Anna niemals gesagt zu haben, wie sehr ich sie bewunderte. Hätte ich es mal getan, dann befände ich mich vielleicht gar nicht in dieser vertrackten Situation. Dann hätte ich eventuell einfach abtreten können.
    Mit einer Hand fummle ich am Verschluss meines Sicherheitsstuhls, in der anderen halte ich einen Becher mit Auslaufschutz. Damit ich hier am Küchentisch nicht umkippe, haben sie mir ein Stützkissen hinter den Rücken geklemmt. Nie hätte ich gedacht, dass ich so was noch mal erleben muss! In der einen Minute ist man noch im Vollbesitz seiner körperlichen Fähigkeiten, und in der nächsten findet man sich um Jahrzehnte zurückgeworfen wieder, bringt nicht mal mehr ein deutliches Wort über die Lippen!
    Allein, wenn ich mich in der Küche umschaue, könnte ich schreien. Auf meinem Sideboard steht eine chinesische Vase. Früher stand die dort nicht. Und überhaupt, alles hier ist vollkommen verändert. Eingeschlossen meine Wenigkeit. Die Wände sind farbig gestrichen. Die Küche ist neu. Im Wohnzimmer liegt ein grüner Teppich.
    Mir läuft der Sabber aus dem Mund, aber das ist auch schon egal – ich habe ohnehin keine Kontrolle darüber. Es ist mir auch keiner böse, sie lächeln und wischen mir das Kinn ab, von Anfang an. Mit meiner Körperbeherrschung steht es nun mal nicht zum Besten, genauso wenig wie mit meinen Gedanken, aber von denen ahnt ja sowieso keiner was. Grundsätzlich kann ich inzwischen besser denken als am Anfang – zumindest wenn ich allein und ungestört bin.
    In meinen Tagträumen verfolge ich Sabinas Hausarbeit oder Nils’ und Oles Spiel, ohne dass ich merke, wie die Zeit vergeht. Und wenn ich dann mal den Mund aufmache, um auch etwas zu einer Unterhaltung beizutragen oder Nils und Ole eine Anweisung zuzurufen, lalle ich nur. Statt »Macht mal nicht diese hässliche Vase kaputt mit eurem Ball!« kommt mir ein solch abscheuliches Kauderwelsch über die Lippen, dass es mir sofort wieder die Sprache verschlägt. Peinlich ist das, so peinlich, dass ich manchmal vor Verzweiflung weine. Oder schreie. Keiner versteht, warum ich schreie; sie glauben, ich hätte Wutanfälle oder Krämpfe – keiner begreift, was wirklich mit mir los ist. Und dann wird wieder der Arzt konsultiert, man mache sich Sorgen wegen dieser Schreierei. Der weiß natürlich auch keine Lösung; das werde sich sicher geben, sagt er.

    Vor ein paar Monaten, als ich zu mir kam, fand ich mich in einem gesicherten Bett wieder und begriff nicht, was mit mir passiert war. Ich war eine vollkommen andere. Keine Silvie Jakobi, berufstätige Mutter zweier Söhne, nein, ein hilfloses Geschöpf. Dass ich sogar Windeln trug, muss ich nicht extra erwähnen. Johannes saß stundenlang bei mir und streichelte meine Hand – genauso wie Sabina. Ausgerechnet sie! Ich habe sie fast nicht erkannt. Auf den Fotos war sie natürlich viel jünger.
    Am Ende hat er also doch noch bekommen, was er immer wollte.
    Ich schielte die beiden aus halb geschlossenen Lidern an, sah zu, wie sie sich küssten und in den Arm nahmen, und hatte ansonsten keine Chance, mich bemerkbar zu machen: Schläuche traten aus meiner Nase, und im Arm hatte ich eine Kanüle. Abgesehen davon, dass ich mich sowieso nicht gerade wie neugeboren fühlte.
    Im Gegensatz dazu ist meine jetzige Situation das Paradies.
    Wenn ich mich wenigstens besser bewegen könnte! Den Verschluss meines Stuhls kriege ich auch mit beiden Händen nicht auf. Allerdings, selbst wenn es mir gelänge, würde ich sowieso nur auf den Boden knallen. Da sehe ich mir lieber meinen Trinkbecher genauer an und versuche, ihn zu öffnen. Aber es gelingt mir nicht, selbst wenn ich die Zähne zu Hilfe nehme. Meine Finger weigern sich, die einfachsten Tätigkeiten auszuführen. Sabina ist das egal; sie lässt mich Ewigkeiten hier herumsitzen, während sie die Küche in Ordnung bringt. Immer schön arbeiten, fleißig wie eine Biene. Anna würde mit jemandem in meiner Situation bestimmt anders umgehen, wobei, sie wüsste ja genauso wenig, was mit mir los ist. Egal, sie ist sowieso nicht da, und ich frage mich, was aus ihr geworden ist. Wieso kommt sie niemals hier vorbei? Wenigstens wegen Nils und Ole, immerhin ist sie ihre Tante.

    Jetzt will Sabina mich zum Schlafen bringen, wie jeden Mittag um diese Zeit. Sie hat die Spülmaschine fertig eingeräumt, nimmt mir meinen Becher aus der Hand und macht den Verschluss meines Stuhls auf. Und
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