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Wolfslied Roman

Wolfslied Roman

Titel: Wolfslied Roman
Autoren: Alisa Sheckley
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    Manhattan ist nicht der Nabel der Welt. Es fühlt sich nur so an, wenn man dort lebt. Doch außerhalb der erstaunlichen Anziehungskraft dieser kleinen Insel existieren tatsächlich auch noch andere Welten.
    Ich habe das letzte Jahr in einer winzigen Stadt namens Northside verbracht, die nur zwei Stunden von New York entfernt liegt, sich aber in einem anderen Universum zu befinden scheint. Der Winter setzt hier bereits wesentlich früher ein und treibt einen teilweise an den Rand des Wahnsinns - und der Mond hat an diesem Ort eine deutlich stärkere Wirkung. Die Bedienung in einem Lokal weiß meist nicht nur bereits im Voraus, was man bestellen wird, sondern auch, wie viel Geld man auf dem Konto hat, wie weit die Scheidungsformalitäten vorangeschritten sind und wie es einem gesundheitlich so geht - bis zum Namen der Salbe, die man sich vor ein paar Tagen in der Apotheke auf Rezept holen musste.
    Andererseits gibt es hier auch Geheimnisse, die sich in der Landschaft aus Wald und Bergen und durch die großen Entfernungen länger geheim halten lassen. Eine Großstadt wie New York bietet zwar eine Art intimer Anonymität, doch auf dem Land findet man eine andere Freiheit.

    Zum Beispiel: splitterfasernackt durch den Wald zu rennen - was ich etwa drei Tage im Monat tue, wenn der Mond am vollsten ist. Lykanthropie zwingt einen ebenso wie die eigenen Kinder dazu, die Vor- und Nachteile eines Lebens in der Großstadt neu zu bewerten. Natürlich spreche ich jetzt nicht aus eigener Erfahrung - ich habe keine Kinder.
    Aber auch wenn ich gern zugebe, dass ich auf dem Land inzwischen besser aufgehoben bin, bedeutete es zuerst doch eine gewaltige Umstellung für mich. Bevor ich hier hergezogen bin, um meine zum Scheitern verurteilte Ehe vielleicht doch noch zu retten, hatte ich eine Stelle als Veterinärhospitantin im tiermedizinischen Institut an der Upper East Side. Obwohl die Ausbildung, die ich dort genossen habe, zu den besten des ganzen Kontinents gehört, sah ich mich auf dem Land auf einmal gezwungen, einige Teile des Erlernten so schnell wie möglich wieder zu vergessen.
    In New York legen sich die Leute keine Haustiere zu - eher adoptieren sie Ersatzkinder, die sie dann in riesigen Handtaschen mit sich herumtragen können. Oder sie betrachten die Tiere als Seelenverwandte, die den ganzen Tag über allein zu Hause auf ihre Rückkehr warten und dann jedes Mal fast durchdrehen, wenn Herrchen oder Frauchen endlich wieder zu Hause sind. Wenn Basil, der Basset, an Krebs erkrankt, zuckt sein Besitzer nicht einmal mit der Wimper, weil er Tausende von Dollar für die medizinische Behandlung, für Krankengymnastik oder eine speziell angefertigte Prothese hinblättern muss.
    Auf dem Land ist das etwas ganz anderes.
    Die Hunde von Northside werden als Tiere betrachtet, die einen Großteil des Tages unbeaufsichtigt im Freien verbringen
und Abenteuer erleben, von denen ihre Besitzer keine Ahnung haben. Natürlich gibt es auch hier Ausnahmen, aber insgesamt lässt sich sagen, dass die Leute auf dem Land ihre Tiere zwar lieben, sie aber nicht wie Menschen behandeln, die zufällig eine Ganzkörperbehaarung haben. Die Northsider erkennen das Wölfische, das in jedem Hund steckt, ganz gleich, wie domestiziert die Tiere nach außen hin auch wirken mögen. »Das ist doch kein Leben für einen Hund«, gehört zum Beispiel zu den typischen Redewendungen hier in der Gegend, wenn jemand schwer erkrankt ist.
    Als ich mir den gewaltigen, blutverschmierten Rottweiler ansah, der mein Untersuchungszimmer vollstank, fragte ich mich allerdings, wer es eigentlich besser hat: die heiß geliebten Großstadthaustiere, die ständig umhegt und umsorgt werden, oder ihre Kollegen vom Land, denen man die Freiheit lässt, ihren Instinkten zu folgen und sich in allen verrotteten Eingeweiden zu wälzen, die sie im Laufe eines Tages im Wald so entdecken.
    »Ich kann keine Schnitte oder sonstigen Verletzungen erkennen«, erklärte ich der Hundebesitzerin, einer schlanken Frau mit rauen Arbeitshänden und brüchigen toupierten Haaren. Sie hieß Marlene Krauss und hatte sich zu Hause einen Friseursalon eingerichtet. Ich merkte, wie sie meinen langen braunen Zopf betrachtete - wie ein Holzfäller, der einen Mammutbaum ins Visier nimmt.
    »Ehrlich gesagt«, fuhr ich fort und musterte die Ballen der riesigen Rottweilerpfoten, »glaube ich auch nicht, dass es sich um ihr Blut handelt. Queenie hat sich vermutlich nur mit irgendeinem Kadaver vergnügt.«
    »Ach, das ist
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