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Hühnergötter

Titel: Hühnergötter
Autoren: Birgit Lautenbach
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Gleich würde die Sonne aufgehen. Über die Dächer der Häuser schickte sie ein glühendes Rot voraus, vor dem grau und dunstig ein schmaler Wolkenstreifen hing.
    Weil dies zu allen Jahreszeiten Marten Buhrows Lieblingsstunde war, machte er sich jetzt, um kurz vor halb sechs, auf den Weg. Den Boddendeich hinauf Richtung Kloster, vorbei am Hafen und an der Feuerwehr. Drüben das Rathaus mit der Polizeistation. In dieser Herrgottsfrühe stand der Streifenwagen noch nicht davor. Die sanft ansteigende Schräge hinauf zum Seglerhafen ging er ein wenig schneller, um von hier aus auf den Bug jenseits des Boddens zu sehen. Er wollte den Augenblick nicht versäumen, in dem sich drüben auf Rügen der Sonnenrand über die Baumkronen schob.
    Himmelfahrt. Heute war Himmelfahrt, und Marten sah ganz genau hin. Sein Blick ging aus zusammengekniffenen Augen über die Masten der Segler zu ein paar Möwen, die vor dem dünnen Wolkenband kreuzten.
    Nichts und niemand fuhr in den Himmel. Aber Marten war sicher, es gab sie, die Reise in den Himmel. Nur hatte er eben bisher nicht das Glück gehabt, einen der Reisenden zu entdecken.
    Er wandte sich ab, bevor die Sonne ganz aufgegangen war. Er musste am Karusel vorbei, dem blau-weiß gestreiften Haus mit dem runden Dach. Was ein Karussell war, wusste er. Vor Jahren hatte er eines im Hafen gesehen. Es spielte Musik und drehte sich mit seinen Pferden und Autos und Feuerwehren immer im Kreis. Das lustige Haus mit dem sonderbaren Dach erinnerte ihn jeden Morgen an das bunte drehen und die Musik. Dann lächelte er, auch wenn es ihn damals geängstigt hatte und er um nichts in der Welt mitgefahren wäre. Zu laut und zu schnell und zu fremd.
    Es war nicht gut, wenn ihm etwas fremd war. Dann raste sein Herz. Im Magen brannte ein glühender Klumpen, während außen alles eiskalt war, das Gesicht, die Hände, die Füße. Die Haut fühlte sich rau an und richtete die feinen Härchen an den Armen auf, bis sie aussahen wie gerupfte Hühnerflügel.
    Nur ein einziges Mal in seinem Leben hatte er die Insel verlassen. Das musste sehr lange her sein, denn er war noch ein Kind gewesen. Er hatte sich freuen sollen, aber es wurde der schrecklichste Tag, an den er sich erinnern konnte. Er sah sich stumm neben der Mutter am Tisch auf der Fähre sitzen, stumm die Bockwurst essen, die sie vor ihn hinstellte.
    »Das gehört dazu, wenn man einen Ausflug macht, Marten.«
    Zwei Stunden dauerte die Fahrt mit der Insel Hiddensee von Vitte nach Stralsund mit seinen hohen roten Häusern, den gezackten Dächern, den Menschen, den Autos. Überall sah er Autos und fürchtete sich vor ihnen mehr als vor allem, was er bis dahin gesehen hatte. Das war, bevor die Mutter ihn an die Glaskästen führte, in denen Fische sein sollten.
    »Das ist ein berühmtes Museum, Marten. Ein Museum mit alten Schiffen und seltenen Fischen.«
    Aber hinter den Glasscheiben schwammen gar keine Fische. Nur Ungeheuer mit Stacheln und Fangarmen. Manche kugelrund, mit hässlichen Narben und Höckern und mit bösartigen Glubschaugen, die sich an Stäben in alle Richtungen aus dem Kopf schoben.
    Seitdem wusste er, wie schlimm Angst sein kann. Dass sie Hitze und Kälte zugleich ist, dass sie schreien und verstummen lässt, dass sie Bilder im Kopf macht, die alle Kraft aus dem Körper saugen, bis man endlich, endlich nichts mehr weiß.
    Beim Gedanken an diesen Tag schüttelte er so heftig den Kopf, dass er ein paar Schritte aus dem Takt geriet. Er schlenkerte mit den langen Armen und machte zwei, drei Hüpfer voraus, bis er wieder in seinen seltsam unruhigen Gang zurückfand.
    Nein, Ausflüge waren nichts für ihn.
    Ganz und gar nicht.
    Überhaupt alles Fremde nicht. Seine Hand fuhr in die Hosentasche und fasste nach dem schwarzen Stein. Der Vater hatte ihn poliert, bis die weißen Flecken rund um das Loch wie Elfenbein schimmerten. Das ist ein Hühnergott, Marten, und der bringt dir Glück.
    Am liebsten war ihm das immer Gleiche, die Ordnung aller alltäglichen dinge, und auch deswegen machte er jeden Morgen bei Tagesanbruch den Gang durch den schlafenden Ort. Hinaus bis zum Anfang des Seedeichs, am Strand zurück und über den Außendeich wieder nach Hause ins Süderende.
    Er traf den Mann, an dem alles altmodisch wirkte, die Frisur und der blau-grau gestreifte Bademantel ebenso wie die dunkelgrüne filzige Badehose und die braunen Lederpantoffeln. Marten wusste nicht, seit wann er dort morgens reglos stand, mal den linken Fuß gegen das rechte Knie
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