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Hinter der Tür

Hinter der Tür

Titel: Hinter der Tür
Autoren: Henry Slesar
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Berührung von unzähligen Knöpfen überall an seinem Körper. Arme, die sie vom Boden hoben, die hübschen goldenen Blätter an seinen Schultern, die sie anfaßte und abzunehmen versuchte. Ihr Vater, lachend. Gesicht an Gesicht, die grobe Berührung des Bartes und der seltsame Mischgeruch von Rauch und Süße, das Gefühl von Sicherheit und Frieden.
    Die Uhr. Der Schlag einer Turmuhr. Eine Treppe, die zu dem fernen Zifferblatt aufsteigt. Das Klettern, Atemlosigkeit. Die Glocke, die lauter schlug. Kirchenglocke. Glocke. Locke. Flocke. Der Teufel, der Cassan- dra am Schwanz packte. Ein Geheul. Ein Mann im weißen Mantel mit Gazemaske vor dem Gesicht, eine Nadel in der Hand. Die Spitze, die sich in ihr Hinterteil bohrte. Cassandra, wimmernd, den Kopf auf den Pfoten, flehende Augen, das dumpfe Pochen des Schwanzes auf dem Teppich …
    Sie hörte das Pochen zweimal und öffnete die Augen.
    Ein ganz leiser Laut in der Stille. Poch, Pause, Poch, Pause. Poch Pfoten? fragte sich Gail. Oder ein Schwanz? Cass, der Fast-Schäferhund, der die Treppe heraufkam? Nein. Cass war ja tot, eingeschläfert. Trotzdem das Poch, Pause, Poch.
    Stille.
    Sie wartete darauf, daß die Gravitation des Schlafs sie wieder hinabzog.
    Wartete und hörte das Quietschen.
    Ihre Augen wandten sich der Tür zu.
    Drehte sich der Knopf?
    Egal.
    Die Tür war ja verschlossen.
    Dr. Vanner hatte sie verriegelt, als er das Zimmer verließ.
    Soll sich der Knopf ruhig drehen.
    Aber jetzt öffnete sich die Tür.
    Vor dem diffusen Licht aus dem Flur erschien die schwarze Silhouette des Leichenbestatters in all ihrer Verkrümmtheit und übertriebenen Länge – eine knochige Hand lag auf dem äußeren Knopf ihrer Tür, die andere preßte etwas an die Brust; der Mann der Holzkisten und der ausgehobenen Erde trat in ihr Zimmer und in den weichen Schein ihres Nachtlichts; die schwache Glühbirne warf alle Schatten nach oben und verwandelte die Augen in leere schwarze Höhlen; der vorgeneigte Körper, der mit jedem Schritt torkelte, als sei der Teppich ein schwankender Boden, näherte sich. Im Zimmer gab es keinen anderen Laut als sein furchtsames Stöhnen, denn Gails Hals war zu einer festen Säule aus Fleisch geworden, die keinen Laut und keinen Atemzug durchließ.
    Dann blieb er stehen, auf halbem Wege zwischen der Tür und ihrem Bett. Seine rechte Hand kam unter dem Mantel hervor; etwas blitzte metallisch im Licht, als er den Arm ausstreckte und den bisher verborgenen Gegenstand vor sich hinhielt, den Spaten, der das Grab grub, das die Kisten aufnahm, die die Leichen enthielten, die die Gravitation des Todes in die ewige Nacht hinabzog.

17
    S ie kämpfte mit ihm, kreischte ihm ins Gesicht, ihre Fingernägel kratzten ihm über die Wange, über das Nasenbein, über das bärtige Kinn; aber der Leichenbestatter hatte doch gar keinen Bart! Diese Erkenntnis würgte ihre Schreie lange genug ab, daß sie Dr. Vanners gebrüllte Kommandos hören konnte:
    »Hören Sie auf, Gail! Um Himmels willen, hören Sie auf!«
    Schluchzend hob sie die Hände, als wollte sie den Schlag abwehren, der ihre Hysterie beenden würde. Aber Vanner packte sie nur an den Schultern und drückte sie fest in die Kissen.
    »Der Leichenbestatter!« sagte sie atemlos. »Er war hier – er wollte mich holen! Wie damals!«
    »Nein«, sagte Vanner. »Nein, Gail, niemand war hier. Sie haben wieder mal ein Phantom gesehen, eine Halluzination – weiter nichts.«
    »Er war es, ich schwör‘s! Er kam die Treppe herauf, wie in der Nacht, als meine Mutter starb! Er ist damals in mein Schlafzimmer gekommen! Wie konnte ich das nur vergessen?«
    »Aber Sie haben‘s vergessen«, sagte Vanner leise. »Sie haben diese Kindheitserinnerung völlig verdrängt. Die Tatsache, daß der Leichenbestatter damals Ihr Schlafzimmer betrat. Sie nahmen an, er wäre gekommen, um Sie als nächste zu holen, Gail, um Ihnen dasselbe anzutun wie Ihrer Mutter …«
    »Ja. Ich dachte, er hätte es auf mich abgesehen! Es war schrecklich!«
    »Sie meinten, als nächste müßten Sie in den Holzkasten, um unter die Erde gesteckt zu werden …«
    Sie begann wieder zu weinen. »Mein Gott, Joel, wie konnte ich das nur vergessen? Es war der schlimmste Augenblick in meinem Leben!«
    »Das war Ihre Strafe«, sagte Vanner. »Jedenfalls haben Sie so etwas angenommen, als der Mann in Ihr Zimmer kam. Die Strafe für Ihre bösen Gedanken, dafür, daß Sie sich den Tod Ihrer Mutter gewünscht hatten – ein Wunsch, der nun erfüllt worden war
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