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Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)

Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)

Titel: Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)
Autoren: Piers Torday
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Kapitel 1
    Meine Geschichte beginnt damit, dass ich auf dem Bett sitze und durchs Fenster sehe.
    Ich weiß, das hört sich nicht gerade vielversprechend an. Aber dazu muss man wissen, wo sich das Bett befindet und welchen Blick ich aus dem Fenster habe. Das Bett steht nämlich in der Ecke eines Raums, der gerade groß genug für das Bett ist, und das Bett wiederum ist gerade groß genug für einen Jungen meines Alters.
    (12 – demnächst 13 – und ziemlich dünn.)
    Das Fenster nimmt die ganze Wand ein und ist aus speziell getöntem Glas, damit eine gleichbleibende Raumtemperatur herrscht. Das Zimmer ist verriegelt und lässt sich nur mit einer elektronischen Schlüsselkarte von außen öffnen. Würde man die Tür aufmachen, befände man sich in einem langen Gang, in dem absolut nichts ist außer den Überwachungskameras an der Decke und einem dicken Mann in purpurroter Jacke und Hose, der auf einem Stuhl gegenüber der Tür sitzt – und höchstwahrscheinlich schläft.
    Dieser dicke Mann ist ein Aufseher . Davon gibt es hier sehr viele. Aber er ist, soweit ich weiß, von allen der dickste.
    Der Gang mit den Kameras und dem dicken Aufseher befindet sich im siebten Stock eines Gebäudes, das wie ein großer kieloben liegender Kreuzer aus Glas und Metall aussieht. Egal wo man hinsieht, überall sind Spiegelungen – von dir selbst, von anderen, von den Sturmwolken.
    Das geschwungene Glasgebäude steht auf einer sehr hohen Klippe, meilenweit nichts als Gras und Erde, dazu Felsbrocken und tief unten das Meer. Die Klippen wiederum befinden sich im Norden der Insel, mitten in der Quarantäne-Zone, weit weg von der Stadt und meinem Zuhause.
    Der Name des Gebäudes ist Mentorium.
    Genauer gesagt: Mentorium, Anstalt für verhaltensauffällige Kinder.
    Im Grunde genommen ist es nichts anderes als eine große Schule. Nur dass es die langweiligste Schule der Welt ist und man ihr um keinen Preis entkommen kann.
    Was es mit dem Blick aus dem Fenster auf sich hat?
    Draußen sind das Meer und der Himmel und die Felsen, das weiß ich. Aber ich sehe davon nichts, denn das schimmernde Deckenlicht spiegelt sich im Glas und tanzt vor meinen Augen. Wenn ich hinaus in den dunklen Himmel blicke, sehe ich nur mein eigenes Spiegelbild. Das und ein graues Ungeziefer, das in der Zimmerecke flattert. Man nennt es »Motte«, es hat Fühler und getupfte graue Flügel. Ich will es verscheuchen – mit dem Ergebnis, dass es nun das Deckenlicht umkreist.
    Ich versuche, das flirrende Geräusch über mir zu ignorieren, und setze meine Übungen fort. »Bett«, »Stuhl« (einer; am Boden festmontiert), »Fenster«, »meine Uhr« – es gibt so viele Wörter, die man üben kann. Natürlich weiß ich genau, was die Wörter bedeuten. Ich weiß auch, wie man sie schreibt. Ich kann sie nur nicht aussprechen. Ich bin genauso wenig in der Lage, sie auszusprechen wie die Motte.
    Nicht seit meine Mutter gestorben ist.
    Bei dem Gedanken werfe ich einen Blick auf meine Uhr. Die große grüne Digitaluhr, die sie mir gegeben hat. Ihr letztes Geschenk an mich. Meine Lieblingserinnerung an sie. Pa fand die Uhr so chic, dass er sie mir sogar einmal weggenommen hat und ich ihn zwingen musste, sie mir zurückzugeben.
    Ich bin froh, dass ich sie noch habe – persönlicher Besitz ist hier eigentlich nicht erlaubt –, aber ich habe um mich getreten und gebissen, als sie sie mir wegnehmen wollten. Ich drücke auf die Uhr und hole mir ein Foto auf die Anzeige.
    Es ist an einem Sommernachmittag aufgenommen und zeigt den Garten hinter unserem Haus in der Stadt. Man sieht die rückwärtige Gartenmauer und dahinter das Wasser der Ams im Sonnenschein glitzern und auf der anderen Seite des Flusses in weiter Ferne eine Skyline aus gläsernen Hochhaustürmen.
    Premia.
    Stadt im Süden und Hauptstadt der Insel. Als die restliche Welt zu heiß wurde und unter der glühenden Sonne barst, flüchteten die Menschen zu Hunderten und Tausenden auf diese kalte graue Insel. Wenn es hier doch auch ab und zu einmal heiß wäre! Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir je schönes Wetter gehabt hätten. Dieses Bild zeigt mir mein Zuhause, dort, wo Pa ist – und wohin ich ganz sicher eines Tages zurückkehren werde.
    Im Augenblick jedoch interessiert mich vor allem die Person im Garten.
    Es ist meine Ma, Laura – bevor sie krank wurde. Sie hat langes, lockiges Haar, dessen Farbe an nagelneue schimmernde Kupfermünzen erinnert. Sie steht in unserem Garten und lacht über etwas, das Pa oder
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