Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hinter der Tür

Hinter der Tür

Titel: Hinter der Tür
Autoren: Henry Slesar
Vom Netzwerk:
mich los!«
    Er löste den Griff so abrupt, daß sie fast nach hinten getaumelt wäre. Sie gewann ihr Gleichgewicht wieder, doch plötzlich befiel sie eine neue Art von Schwindel. Auf einmal sah sie die Welt durch das falsche Ende eines Fernglases; so wie man nur die Vergangenheit betrachten kann. Auf Vanners Gesicht stand ein Ausdruck des Entsetzens; die grauen Augen waren verblüfft gerundet, das Kinn hing ihm herab, und er sah jünger aus, er sah mehr aus wie der Junge, der er einmal gewesen war. »Du bist ja wirklich Piers, nicht wahr?« fragte Gail verwundert. »Du siehst genauso aus wie er«, sagte sie und begann zu wimmern, als er ihr die Hand vor das Gesicht legte, wobei seine Handkante hart gegen ihren Mund schlug. Zwischen den gespreizten Fingern hindurch sah sie die schreckliche Wut, die sein Gesicht vom Haaransatz bis zum Bart rötete. Dann verschwamm sein Bild, und sie stürzte. Sie sah die Standuhr, die plötzlich auf dem Kopf stand. Sie schrie, aber da drängten die Wände herbei, um sie einzuschließen, und sie sagte noch einmal seinen Namen. Piers! sagte sie, und ihre Stimme war leise und tonlos.
    Aber Dr. Joel Vanner hörte das Wort und wußte, daß auch ihm nicht mehr viele Möglichkeiten blieben.
    Er fand kein Seil auf dem Boden. Das war vielleicht ein Glücksumstand. Parallelen waren schließlich Parallelen. Cressie Gunnerson hatte eine elektrische Schnur verwendet, und im Wohnzimmer gab es eine lange Verlängerungsschnur, über die er schon mehrmals gestolpert war. Allerdings ließ er das ohnmächtige Mädchen ungern auf dem staubigen Boden zurück; die nützliche Bewußtlosigkeit mochte jeden Augenblick enden, und er haßte es, sich etwa mit der Gewalttätigkeit eines Schlages behelfen zu müssen. Dies war sein schlimmster Augenblick bei Helen gewesen; die Notwendigkeit, sie bewußtlos zu schlagen, um ihre Mitwirkung bei dem Selbstmordplan zu gewinnen. Vanner erschauderte bei dem Gedanken daran; dieser Schlag war ihm schwerer gefallen, als ihr hinterher die Schnitte an den Handgelenken beizubringen. Irgendwie waren die Augen daran schuld. Es war ihm unangenehm gewesen, daß Helen ihn ansah, als sie seine wahre Absicht erkannte. Aber ihre Augen waren dann säuberlich geschlossen worden, als er sie mit der Schläfe gegen den Badewannenrand knallte. Der Rest war nicht problematischer gewesen als die Arbeit an einer Schaufensterpuppe. Auch Gail war jetzt mehr oder weniger eine Schaufensterpuppe. Und ihre Augen waren geschlossen. Wenn er Glück hatte, blieben sie so, bis er die Schnur gefunden hatte und zurückkehrte, um sein abendliches Werk zu vollenden. Er eilte ins Erdgeschoß, wobei er nicht widerstehen konnte, einen Augenblick lang vor Mrs. Bellingers Schlafzimmertür stehenzubleiben und zu horchen. Erfreut stellte er fest, daß Mrs. Bel- iinger energisch schnarchte. Dann betrat er das Wohnzimmer, zog die Schnur aus der Stehlampe und kehrte an die Hinrichtungsstätte zurück. Gail hatte sich nicht gerührt. Wieder einmal hatte Vanner guten Grund, das Schicksal für seinen Verbündeten zu halten.
    Die Schlinge, die er aus der gummigeschützten braunen Schnur formte, war nicht vollkommen – ein Berufshenker hätte darüber gelacht -, aber sie würde ihren Zweck erfüllen. Er schlang das andere Ende über den mittleren Dachbalken, wobei er den Empfangsstecker als Wurf gewicht verwendete.
    Dann sah er sich nach einem kräftigen Stuhl um. Die Auswahl war groß. Er nahm einen antiken, aber gut erhaltenen Chippendale-Stuhl und teste seine Festigkeit, indem er mit beiden Händen kräftig auf das Sitzpolster drückte. Das Ergebnis war zufriedenstellend.
    Als er Gail vom Boden heben wollte, erkannte er, daß Bewußtlosigkeit auch ihre Nachteile hatte. Im Gegensatz zu einer Schaufensterpuppe war das Gewicht eines schlaffen menschlichen Körpers nur mit Mühe zu bewegen. Es hatte keine große Anstrengung gekostet, sie die Treppe heraufzutragen, aber Gail nun in die richtige Stellung zu bringen, war nicht leicht. Der Geruch seines Schweißes vermischte sich bald mit den staubigen Gerüchen des Bodenraums.
    Endlich hatte er ihr die Schlinge um den Hals gelegt und ihre beiden nackten Füße auf den stoffbespannten Sitz des Chippendale-Stuhls gestellt. Aber als er seine stützenden Arme fortnahm, sackte der Körper zusammen und wäre beinahe vorzeitig vom Stuhl gerutscht.
    Das wollte er nicht; er hatte keine Lust, den schrecklichen ersten Ruck zu sehen, mit dem sich die Schlinge in den zarten weißen Hals
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher