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Hinter der Tür

Hinter der Tür

Titel: Hinter der Tür
Autoren: Henry Slesar
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eingepackt, die ihm in der möblierten Praxiswohnung gehörten – einschließlich des Diploms – und hatte der Vermieterin einen letzten Scheck über die Miete und einen kurzen Brief dagelassen, er müsse überraschend einen psychiatrischen Kongreß »im Ausland« besuchen. Das private Gepäck befand sich nun draußen im Kofferraum des Mietwagens; sein Flugticket lag im Handschuhfach – dies alles gab Vanner ein köstliches Gefühl der Befreiung.
    Er betrat das Wohnzimmer der Gunnersons und schenkte sich ein Glas Sherry ein – das einzige alkoholische Getränk, das er finden konnte. Normalerweise trank er keinen Sherry, doch dieser Abend erforderte eine kleine Feier, ein Glas, das prostend an die Lippen gehoben wurde. Nicht um sich Mut zuzutrinken, redete er sich ein; den hatte er bereits unter Beweis gestellt und wußte durchaus, daß er über eine bemerkenswerte Entschlossenheit verfügte. In offener Bewunderung seiner Talente hob er das Glas. Dann lehnte er sich zurück und wartete darauf, daß die Türklingel schellte.
    Shanks traf einige Minuten nach zehn Uhr ein. Die Verspätung überraschte Vanner nicht; er konnte sich lebhaft vorstellen, wie der ehemalige Leichenbestatter noch einen nervösen Rundgang um den Häuserblock gemacht hatte, ehe er den Mut aufbrachte, das Stadthaus der Gunnersons zu betreten. Bestimmt hatte er sich das Gebäude angesehen und dabei erschaudernd an die Nacht des 12. März 1955 gedacht; bestimmt sah er mit noch größerer Furcht dem Auftrag entgegen, der ihn nun nach fast zwanzig Jahren wieder hierherführte. Vanner hatte ihm versichert, daß sein Einsatz ausschließlich medizinische Gründe hatte; doch als er Shanks‘ gebeugte Gestalt und die zitternden Hände und die Feuchtigkeit auf den Lippen des fast zahnlosen Mundes sah, wußte er, daß er ihm noch einmal gut zureden mußte.
    »Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte Vanner leichthin. »Es wird alles gut werden. Sie müssen nur genau das tun, was ich Ihnen gesagt habe, dann ist der Fall für Sie endgültig ausgestanden.«
    »Gefällt mir nicht«, sagte Shanks heiser. »Eine schreckliche Sache, die Sie da von mir verlangen.«
    »Stellen Sie es sich als Rolle vor«, sagte Vanner. »Haben Sie schon einmal von einem Psychodrama gehört?« Er lächelte. »Nein, ich bin sicher, das Wort ist Ihnen unbekannt. Aber Sie haben doch bestimmt eine Vorstellung von traumatischen Erlebnissen. Einem Menschen widerfährt etwas, und wenn dieses Etwas die Ursache großen Schmerzes oder großer Angst oder unerträglicher Schuldgefühle ist, neigt man dazu, es zu unterdrücken und zu begraben. Mit Beerdigungen müßten Sie sich doch auskennen, Mr. Shanks.« Vanners Zuhörer lachte nicht. »Jedenfalls wissen wir Psychiater eins – die einzige Methode, die schlimmen Auswirkungen einer verdrängten Erinnerung auszumerzen, besteht darin, sie wiedererstehen zu lassen. Verstehen Sie jetzt?«
    »Nein«, sagte Shanks und blickte sehnsüchtig auf den Sherry.
    »Möchten Sie einen Drink?« fragte Vanner, dem nicht entgangen war, daß sich der Mann schon vor seiner Ankunft tüchtig gestärkt hatte. Er schenkte ihm ein Glas ein.
    Shanks leerte es in einem Zug und sagte: »Sind Sie sicher, daß wir keinen Ärger bekommen?«
    »Der einzige ›Ärger‹, der entstehen könnte, wäre an Ihre Anschrift gerichtet, Mr. Shanks, wenn Sie nämlich nicht mitmachen. Verstehen Sie?«
    Shanks starrte bekümmert in sein leeres Glas und nickte. Vanner nahm ihm das Glas ab und stellte es sorgfältig fort. »Also gut«, sagte er. »Kommen Sie mit.«
    Vanner führte Shanks wie an einer unsichtbaren Leine in die Haupthalle. Der frühere Leichenbestatter blickte angstvoll die lange Treppe hinauf.
    »Moment noch«, sagte Vanner.
    Er ging zur Garderobe im Flur. Auf der Marmorplatte des Tischchens unter dem Flurspiegel lag ein verpackter Gegenstand; das Papier war mit Klebstreifen verschlossen. Vanner entfernte die Verpackung und sagte zu Shanks: »Nehmen Sie das mit.«

16
    T räume:
    In ekstatischem Entsetzen festgeklammert an der Kette der Gartenschaukel, ihre Beine, die in die Luft hinaufsausten, die Spitze ihrer braunen Lacklederschuhe wie Amseln, die nebeneinander dahinfliegen. Der Rücksturz zur Erde, zurück in den Griff der Gravitation, der erneute Aufschwung und der Blick nach unten – dann unter ihr die längliche Vertiefung im Boden, der aufgehäufte Dreck aus dem Grab der Gravitation …
    Ihr Vater. Ein rosaverwaschenes Gesicht unter einer Schirmmütze, die kalte
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