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Hinter der Tür

Hinter der Tür

Titel: Hinter der Tür
Autoren: Henry Slesar
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12. März 1955
    Der Tod roch nach Medizin und Möbelpolitur. Die Goldstaubzwillinge hatten das Putzmittel überall im Haus der Gunnersons verrieben, über Kommoden, Schränken und Treppengeländern. Der Auftrag dazu war von Mrs. Bellinger gekommen, die der Meinung war, die Dienstboten müßten sich durch viel Arbeit vom Tod im oberen Schlafzimmer ablenken. Später sollte sich für Gail Gunnerson der Geruch polierten Holzes stets mit einer unerklärlichen Traurigkeit verbinden. Aber das wußte sie noch nicht; am 12. März 1955 war sie erst sechs Jahre alt. Ihre kleine Hand glitt sanft über das gewachste Geländer, als sie in das Obergeschoß hinaufging und sich dabei in ihren Lacklederschuhen auf die Zehenspitzen stellte, als hätten die dicken Teppiche ihre leisen Schritte nichtohnehin gedämpft.
    Oben an der Treppe hörte sie ein Türschloß klicken. Sie erkannte, daß jemand das Schlafzimmer ihrer Mutter verließ, und gehorchte dem Diktat der Angst – sie rannte los. Am Ende des Flurs erhob sich eine Burg mit einem einzelnen imposanten Turm – ein Asyl. Ältere, die es genauer nahmen, nannten das Gebilde eine Standuhr. Gail duckte sich dahinter (wieder Duft nach Wachs, säuerlich und verbraucht wie eine verblühte Gardenie) und hörte die Stimme ihres Onkels, ein dröhnendes männliches Organ, das die empfindlichen Federn der Uhr zum Beben brachte: » Wann wollte der Mann hier sein?«
    »Nach spätestens einer Stunde, Sir.« Das war Mrs. Bellinger.
    »Ich wünschte, er würde sich beeilen. Ich will die Maschine um zweiundzwanzig Uhr noch erwischen. Haben Sie das Mädchen gesehen?«
    »Nein, Sir.«
    »Und wo steckt mein Sohn?«
    »Unten, Mr. Swann.«
    »Piers!« Er ließ das Wort wie eine Wasserbombe über das Treppengeländer fallen. Unmittelbar darauf hörte Gail die schrille Antwort des Jungen von unten. Dann ihr Onkel: »Hast du deine Kusine gesehen?«
    »Nein.«
    »Such sie. Sag ihr, sie soll ins Schlafzimmer kommen.«
    »Ach, Paps, ich weiß doch gar nicht, wo sie ist.«
    »Such sie. Sag ihr, das war die letzte Gelegenheit für sie, ihre Mutter zu sehen – ehe der Mann vom Bestattungsinstitut kommt.«
    Das Wort bedeutete ihr nichts, enthielt aber eine unterschwellige Drohung. Gail machte sich neben der schützenden Wand der Uhr ganz klein. Sie hörte, wie Piers nach ihr rief, hörte ihn überall am langen Flurdie Türen öffnen und respektlos wieder zuknallen; er war erst vierzehn Jahre alt und unbeeindruckt vom Tod einer Fremden.
    »Gail! He, wo bist du?«
    Sie versuchte sich an die Unsichtbarkeitsformel aus dem letzten Buch zu erinnern, das die Mutter ihr vorgelesen hatte. Doch ihr Gedächtnis versagte, und Piers hatte Erfolg. »Was machst du denn da?« Sie wimmerte eine wortlose Antwort. »Was ist mit dir? Mein Vater sagt, du sollst ins Schlafzimmer kommen.« Sie wich vor seiner ausgestreckten Hand zurück. »Nun komm schon! Willst du denn deine Mutter nicht sehen?«
    »Nein!«
    »Deine letzte Gelegenheit. Sie wird fortgebracht.« In seiner Stimme lag genug Boshaftigkeit, um die Tränen zum Überfließen zu bringen. Sie schlug nach seiner Hand und rief: »Ich gehe nicht!«
    Seine Hand an ihrem Arm. »Blödes Gör! Du mußt sie sehen, das ist nun mal so!«
    »Ich will nicht, ich will nicht!«
    Er zog und zerrte.
    »Laß mich los, Piers, laß mich los! Ich will sie nicht sehen. Ich will da nicht rein – ich will nicht!«
    Unten ging die Türklingel und schob die Auseinandersetzung zunächst auf Die Zwillinge hatten vor einer Stunde laut schluchzend das Haus verlassen, so daß Mrs. Bellinger selbst aufmachen mußte. Piers, der den Besucher offenbar unbedingt sehen wollte, ließ Gails Arm los und ging zur Treppe. Sie hörte, wie er mit einem leisen Pfeifen den Atem einzog, und Neugier siegte über Angst. Sie folgte ihm zum Treppengeländer und blickte hinab.
    An der Tür standen drei Männer, zwei in uniformähnlichen Jacken, die ihnen eine halb ärztliche, halb militärische Autorität verliehen. Der dritte Mann war eindrucksvoller. Er war so groß, daß sein schwarzer Filzhut am oberen Türrand entlangstreifte, als er ihn vom Kopf zog. Auch sein Anzug war schwarz. Gail wußte, daß die Farbe ein Ausdruck der Trauer war, doch zugleich wurde ihr klar, daß das Gefühl in seinem Falle unpersönlich blieb.
    »Der Leichenbestatter«, flüsterte Piers.
    Dann kamen sie die Treppe herauf, und jetzt sah Gail, daß einer der Männer ein Gebilde aus Holzstangen und Leinen trug, dessen Bedeutung ihr aber
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