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Der vierzehnte Stein

Der vierzehnte Stein

Titel: Der vierzehnte Stein
Autoren: Fred Vargas
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    An die schwarze Kellerwand gelehnt, betrachtete Jean-Baptiste Adamsberg den gewaltigen Heizkessel, der zwei Tage zuvor jede Tätigkeit eingestellt hatte. An einem Samstag, 4. Oktober, während die Außentemperatur auf ungefähr ein Grad gesunken war und ein steifer Wind von der Arktis her wehte. Laienhaft begutachtete der Kommissar den Brenner und die nun stillen Rohrleitungen, in der Hoffnung, sein freundlicher Blick könnte der Anlage neue Kraft einflößen oder aber den Fachmann auftauchen lassen, der kommen sollte und nicht kam.
    Dabei war er weder besonders kälteempfindlich, noch war ihm die Situation unangenehm. Im Gegenteil, die Vorstellung, der Nordwind käme ohne Aufenthalt oder Umweg vom Packeis geradewegs in die Straßen des Pariser 13. Arrondissements, gab ihm das Gefühl, er könnte mit einem einzigen Schritt in jene eisigen Weiten gelangen, dort umherstapfen und sich ein Loch für die Robbenjagd aufhacken. Er hatte sich noch eine Strickweste unter seine schwarze Jacke gezogen, und wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er hier in aller Ruhe die Ankunft des Monteurs abgewartet und auf das Auftauchen der Robbenschnauze gelauert.
    Aber die mächtige Maschine im Kellergeschoß trug nun einmal auf ihre Weise zur Aufklärung der Fälle bei, die zu jeder Tageszeit auf die Brigade criminelle zukamen, indem sie die Körper der vierunddreißig Radiatoren und der achtundzwanzig Bullen im Gebäude wärmte. Kältestarre Körper, die derzeit in Anoraks verschwunden waren, sich um den Kaffeeautomaten drängten und ihre behandschuhten Finger an die weißen Becher drückten. Oder sich gleich davonmachten in die umliegenden Bars. Damit aber erstarrten auch die Akten. Hochwichtige Akten, blutige Verbrechen. Die den gewaltigen Heizkessel indes nicht interessierten. Wie ein fürstlicher Tyrann wartete er darauf, daß ein Mann der Zunft sich aufmachen und ihm zu Füßen legen möge. Als Zeichen seines guten Willens war Adamsberg schließlich hinuntergegangen, um ihm seine kurze und überflüssige Aufwartung zu machen, aber vor allem auch, um dem Lamentieren seiner Männer zu entfliehen und ein wenig Dunkel und Stille zu finden.
     
    Dieses Gejammer, während sich in den Räumen doch immerhin noch eine Temperatur von zehn Grad hielt, war ein schlechtes Vorzeichen für den DNA-Lehrgang in Quebec, wo sich ein rauher Herbst ankündigte – minus vier Grad gestern in Ottawa und hier und da bereits Schnee. Zwei Wochen, in denen es um genetische Fingerabdrücke gehen würde, um Speichel, Blut, Schweiß, Tränen, Urin und andere Absonderungen, die heutzutage elektronisch erfaßt, geordnet und analysiert werden konnten, alle menschlichen Säfte, die zum regelrechten Kriegsgerät der Kriminalwissenschaft geworden waren. Eine Woche vor der Abreise hatten Adamsbergs Gedanken bereits abgehoben in Richtung kanadische Wälder, jene unermeßlich weiten, wie es hieß, die durchlöchert waren von Tausenden von Seen. Sein Stellvertreter Danglard hatte ihn grollend daran erinnert, daß sie wohl eher auf Bildschirme starren würden und in gar keinem Fall auf die Oberfläche von Seen. Seit einem Jahr grollte Capitaine Danglard nun schon. Adamsberg wußte, warum, und wartete geduldig darauf, daß dieses Knurren sich legte.
    Danglard dachte nicht über Seen nach, sondern betete jeden Tag, daß ein heißer Fall die gesamte Brigade hier festnageln möge. Seit einem Monat quälte ihn der Gedanke an sein baldiges Ableben bei einer Explosion der Maschine über dem Atlantik. Seitdem allerdings der Fachmann, der kommen sollte, nicht kam, wurde seine Stimmung merklich besser. Er setzte auf diesen unerwarteten Ausfall des Heizkessels und hoffte, der Kälteeinbruch würde die absurden Phantasien entkräften, die die eisigen Weiten Kanadas in den Köpfen seiner Kollegen erzeugten.
    Adamsberg legte seine Hand auf die Brennerklappe der Anlage und lächelte. Wäre Danglard imstande, den Heizkessel zu manipulieren, weil er die demobilisierende Wirkung einer solchen Aktion voraussah? Und die Ankunft des Monteurs zu verzögern? Ja, zu so etwas war Danglard imstande. Seine bewegliche Intelligenz glitt in jedes noch so feine Räderwerk des menschlichen Geistes: vorausgesetzt natürlich, daß es auf Vernunft und Logik beruhte. Und genau hier, auf dem schmalen Grat zwischen Vernunft und Instinkt, waren Adamsberg und sein Stellvertreter mit den Jahren zu absoluten Gegensätzen geworden.
     
    Der Kommissar stieg die Wendeltreppe wieder hinauf und durchquerte den
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