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Hexengericht

Hexengericht

Titel: Hexengericht
Autoren: Stefan Fandrey
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sowie Schultheiß und Dorfgericht einzusetzen.«
    »Wie viele Unfreie?«, wollte Henri wissen.
    »187 Eigenleute, Bruder Henri«, antwortete Antoine. »Die Abtei hat ihnen gegenüber besondere Rechte, die sich auf die Hinterlassenschaft beim Tode dieser Personen erstrecken.«
    Henri le Brasse sah starr vor sich hin. »Der Ordensgeneral hat mit keinem Wort erwähnt, wie wohlhabend St. Albert ist«, sagte er mehr zu sich selbst. Er blickte auf. »Danke, das ist alles, Bruder Antoine und Bruder Joseph. Ruft den Konvent zusammen. Bruder Raphael und ich werden alsbald dort erscheinen.«
    Noch während die Tür des Abthauses sich hinter Antoine und Joseph schloss, wandte sich Henri an Raphael. »Ihr habt gute Arbeit geleistet, Bruder. Bedenkt man Euer geringes Alter und Eure unzureichende Erfahrung.«
    Statt einer Antwort neigte Raphael leicht den Oberkörper. Er unterdrückte seinen Zorn und dachte an die achte Ordensregel im ersten Kapitel des Augustinus von Hippo: Lebt also alle wie ein Herz und eine Seele zusammen und ehrt gegenseitig in euch Gott; denn jeder von euch ist sein Tempel geworden. Ihn fröstelte plötzlich. Waren es die herbstlichen Temperaturen oder die Grabeskälte, die von Henri ausging?
    »Sagt, Bruder«, fuhr Henri le Brasse fort, »wie steht es mit der Hexerei in der Gemeinde? Gibt es Zauberer und Hexen? Wie viele und wie groß ist der Schaden, den sie angerichtet haben?«
    Verwirrt antwortete Raphael: »Es gab bis dato in Rouen und Umgebung keine Hinweise auf Schadenszauber und Hexenwirken, Bruder Henri.«
    »Ihr meint, es gab keinen Hexenprozess, Bruder?«
    »Keinen einzigen.«
    Henri legte die hohe Stirn in Falten. »Ihr wollt doch nicht etwa behaupten, dass, während in ganz Frankreich die Scheiterhaufen brennen, unsere Gemeinde von der Hexerei verschont blieb?«
    »In der Tat, so ist es, Bruder Henri«, sagte Raphael.
    »Ich sehe«, sagte Henri, »dass das Kloster zumindest in der Fürsorge um das Seelenheil des Sprengels gefehlt hat. Ist es doch unbestritten, dass kein Ort von den schrecklichen Heimkehrungen der Hexen und Hexenmeister sicher ist. Mir scheint, Ihr habt in diesem Bereich versagt.«
    Ohne auf den Vorwurf einzugehen, sagte Raphael: »Erlaubt mir die Frage, mit welchen Aufgaben Ihr am Heiligen Stuhl betraut wart, Bruder.«
    »Mit der Inquisition«, war die knappe Antwort.
    Der junge Mönch erschrak zutiefst. Er ahnte, dass mit Henris Ankunft eine Zeitenwende in ihrer Gemeinde angebrochen war. Zugleich hoffte er, dass der neue Prior keine Opfer finden würde. Bisher war die Bevölkerung von Rouen und Umgebung eine fromme und friedfertige Gemeinschaft gewesen. Aber aus Berichten wusste er, dass Inquisitoren aus den sanftesten Christen gewissenlose Denunzianten und blutrünstige Mörder machen konnten.
    »Führt mich jetzt zum Kapitelhaus!«, verlangte Henri.
    Raphael eilte Henri voran durch die klösterlichen Gänge. Es war, als triebe der Teufel persönlich ihn durch den Kreuzgang. Die kalten Blicke Henris in seinem Rücken schienen ihm direkt in den Schädel zu fahren und seine Gedanken zu durchforschen.
    Im Kapitelsaal stand das Konventkapitel vollzählig bereit, um die Wahl durchzuführen. Der weitläufige Saal war prachtvoll ausgestattet. In den Säulenzwickeln fand man Rundbildnisse, die Mönche mit Büchern zeigten. An Nord- und Südwand hatte ein unbekannter Meister vier großflächige Fresken mit Szenen aus der Bibel geschaffen. An der Stirnwand gegenüber dem Eingangsportal prangte ein dreiteiliger Mäander in den schönsten Gold- und Blautönen. Unter dem geschwungenen Ornamentband befand sich ein großer, massiver Tisch, hinter dem ein prunkvoller, mit Leder besetzter Stuhl stand. Dieser Ort bildete den Machtmittelpunkt des Priors. Seitlich davor gab es eine kleine Kanzel, von der aus der Sakristan bei Versammlungen die Gebete leitete und lateinische Verse vortrug. An den Seitenwänden standen drei Reihen mit Bänken, auf denen nun die Mönche still warteten.
    Hinter Henri schloss Raphael die Tür. Mit hoch erhobenem Kopf ging Henri auf den prächtigen Stuhl zu und setzte sich würdevoll. Raphael nahm neben Bruno auf einer der Bänke Platz. Nachdenklich blickte er zu dem neuen Prior hinüber. Über Henris Kopf prangten in Stein gemeißelt die Worte contemplari et contemplata aliis tradere . Der junge Mönch fragte sich, ob Henri le Brasse die Frucht der Kontemplation weiterzugeben vermochte.
    Der Sakristan, Bruder Mathieu, ein alter, gebeugt gehender Mönch, betrat die
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