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Hexengericht

Hexengericht

Titel: Hexengericht
Autoren: Stefan Fandrey
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PROLOG
    T iefste Finsternis. Die schwärzeste Nacht war gleißendes Feuer gegen diesen dunklen, kalten Ort. Und still war es. Stiller als auf einem Totenacker. Selbst die Ratten wagten sich nicht hierher. Als wäre dies der einzige Winkel auf Erden, den Gott in seinem siebentägigen Werk mit Leben zu füllen vergessen hatte.
    Plötzlich wurde es Licht. Es fiel als dünner Strahl von oben auf den kalten Boden. Dann ertönten Schritte. Und mit den Schritten kam mehr Licht. Das Klackern von Sandalen erfüllte die Gänge und Hallen. Die Mönche entzündeten Fackeln an den Wänden, und mit der Stille verschwand auch die Dunkelheit. Immer weiter drang das Licht vor, bis alle Schatten aus den Nischen verschwanden.
    Niemand sprach ein Wort. Alle hatten ihre Aufgaben zu erfüllen. Einige schleppten schwere Säcke durch die Gänge in Vorratskammern, andere trugen Reliquien und Statuen durch die Räume. Aus verborgenen Kammern kamen sie mit Skulpturen und Büsten aus purem Gold, die hässliche Fratzen zeigten.
    Nachdem sie ihr Werk vollbracht hatten, sammelten sich die Mönche in einem großen Saal. Ein halbes Dutzend Stufen führte in der Mitte zu einer ovalen Empore aus weißem Marmor. An der Längsseite stand ein hoher Altar aus tiefschwarzem Lydit. Vorn am Altar prangte die Fratze eines goldfarbenen Dämons. Die Wände waren reich mit biblischen Szenen und Bildern des Weltenendes bemalt.
    Die Mönche standen mit verschränkten Händen beieinander und beteten lautlos. Da begann einer von ihnen einen Choral anzustimmen, und seine Mitbrüder fielen in den Singsang ein.
    Dann erschienen die Priesterinnen. Die schlanken Körper waren in weiße Gewänder gehüllt, die Schädel kahl geschoren. In einer stillen Prozession stellten sie sich neben die Mönche. Kaum hatte die Letzte unter ihnen ihren Platz gefunden, stimmten auch sie in den Choral ein.
    Schließlich verstummten sie, und der älteste Mönch unter ihnen sprach Verse, die die anderen singend wiederholten.
    Darauf öffnete sich eine Tür hinter dem Altar. Eine schwarz gekleidete Gestalt mit verhülltem Gesicht betrat den Saal. Sie stieg die Stufen hoch und trat an den Altar. Sie sah im Raum umher, nickte und nahm mit beiden Händen den Schleier ab. Zum Vorschein kam das Gesicht einer jungen Frau mit großen Augen und dunklem, lockigem Haar, das ihr bis über die Schultern reichte. Die Mönche und Priesterinnen fielen auf die Knie.
    Die dunkle Priesterin hob beschwörend die Hände und rief: »Dich rufe ich an, den Ungeborenen. Dich, der die Erde und den Himmel erschuf. Dich, der die Nacht und den Tag erschuf. Dich, der die Dunkelheit und das Licht erschuf.«
    Auch die Mönche und Priesterinnen hoben die Hände. »O, Adu en I Ba Ninib!«, sangen sie.
    »Du«, fuhr die Priesterin fort, »hast zwischen dem Gerechten und dem Ungerechten unterschieden. Du hast das Weibliche und das Männliche geschaffen. Du hast den Samen und die Frucht hervorgebracht. Du hast die Menschen geformt, dass sie einander lieben und dass sie einander hassen.«
    »O, Adu en I Ba Ninib!«, sangen die Mönche und Priesterinnen.
    Die Stimme der Priesterin wurde lauter. »Höre mich, denn ich bin der Engel von Osoronophris. Ich rufe Dich an, den schrecklichen und unsichtbaren Gott, der im leeren Platze des Geistes wohnt. Komme und wohne uns bei an diesem Tage der wirbelnden Luft und des brausenden Feuers. Eile herbei und segne Deinen obersten Diener.«
    Nun sangen nur die Mönche: »Qu-u imtana.«
    Die Priesterinnen antworteten: »Allu-u pi-ia.«
    In diesem Augenblick öffnete sich wieder die Tür hinter dem Altar. Ein Mann in glänzend schwarzer Robe trat aus der Dunkelheit. Sein schwarzes Haar war schütter, und auf dem Hinterkopf trug er die Tonsur der Mönche. Seine Nase war lang; die kleinen dunklen Augen lagen tief in den Höhlen. Kein Muskel in dem hageren Gesicht regte sich. Wortlos ging er zu der Priesterin am Altar. Kurz trafen sich ihre Blicke, dann kniete er vor ihr nieder. Sie nahm eine schwarze Tiara aus einer Nische des Altars und hob sie über den Kopf des Mönchs. »Geist des Großen Planeten«, rief sie, »erinnere Dich! Gott des Sieges über die dunklen Engel, erinnere Dich. Herr all der Lande, erinnere Dich! Überwältiger der Alten, erinnere Dich! Kenner der Geheimnisse aller Dinge, erinnere Dich! Gehörnter der Stille, erinnere Dich!«
    »Ninib ia duk Marduk!«, sangen die Versammelten.
    »Im Namen des zwischen Dir und der Rasse der Menschen geschlossenen Pakts«, fuhr die
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