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Hexengericht

Hexengericht

Titel: Hexengericht
Autoren: Stefan Fandrey
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Kanzel und stimmte einen gregorianischen Choral an. Der Rest des Konvents fiel ein, und einstimmiger lateinischer Gesang erfüllte den Kapitelsaal. Bruder Bruno, der die Choräle über alles liebte, übertönte mit seiner tiefen, klaren Stimme seine Mitbrüder. Daher übernahm er bei den Chorälen stets den Cantus des Konvents – die melodieführende Stimme. Er wiegte seinen bauchigen Körper im Takt, die Augen geschlossen, die Brauen angehoben.
    Nach zwei Chorälen brach der Sakristan ab. Er öffnete die Bibel und las aus dem Neuen Testament. Hin und wieder bestätigten die Mönche die Verse mit einem gesungenen Amen. Es folgten Auszüge aus den Ordensregeln und ein weiterer Choral.
    Schließlich schritt man zur Wahl des Priors. Berechtigt zu wählen war jeder Mönch, der mindestens den Rang eines Subdiakons innehatte. Diesem Kreis gehörten sämtliche Brüder des Klosters an. Allein die Novizen waren von der Wahl ausgeschlossen. Raphael ergriff die tönerne Wahlurne und schritt die Reihen seiner Mitbrüder ab. Unter Henris wachsamen Blicken warf ein jeder ein kleines Pergament in die Urne, auf dem entweder mit Ja oder Nein gestimmt war. Die Urne hoch erhoben, schritt Raphael feierlich zu dem Tisch, hinter dem Henri saß, und leerte sie dort aus. Henri benötigte zwei Drittel der Stimmen, um die Wahl zu gewinnen. Raphael kannte das Ergebnis, noch bevor er den ersten Stimmzettel ergriff. Die anfängliche Freude, sich nun wieder mit seinen Studien im Scriptorium befassen zu können, war verblichen und machte einer ungewohnten Befangenheit Platz. Er spürte, dass er an einem Scheidepunkt seines Lebens angekommen war. Eine ungewöhnliche Erkenntnis für einen jungen Mönch, der sein Leben mit voller Hingabe dem Herrn und der heiligen Mutter Kirche widmete.
    Die Auszählung dauerte nicht lang, und monoton verkündete er das Ergebnis: »Der Konvent hat einstimmig Bruder Henri zum Prior des Klosters St. Albert gewählt.« Er kniete vor Henri nieder und küsste dessen Ring als Anerkennung der neuen Würde. Bedächtig erhob er sich und machte Platz für seine Mitbrüder.
    Nun war Henri le Brasse offiziell geistlicher Vater des Klosters. Jeder Mönch, jeder Novize musste ihn als Lehrer und Führer anerkennen. Für sie war er nun kein Bruder mehr, sondern ein Vater , während sie seine Söhne waren. Und als hätte Gott der Herr sein wohlwollendes Auge auf Henri le Brasse gerichtet, schien der erste Sonnenstrahl des Tages durch das hohe, runde Fenster auf ihn herab.
    Nach der Investitur blieben Henri und Raphael allein im Saal zurück. Henri zeigte keinerlei Regung. Er stand am Fenster und schaute in den Klostergarten. Noch immer wartete Raphael auf ein Zeichen von Henri. Plötzlich stand dieser auf. »Begleitet mich nach Rouen«, sagte er. »Ich will mir einen ersten Eindruck von der Gemeinde verschaffen.«
Ein ungewöhnliches Mädchen
    U nfertige Körbe lagen in dem einzigen Raum des bescheidenen Hauses herum, darauf wartend, dass Anne Langlois ihre Arbeit beendete. Diffuses Licht fiel durch die von Holzwürmern zerfressenen Fensterläden. Zu viel Helligkeit würde Lunas Leid nur steigern. Anne Langlois betete seit vielen Jahren nicht mehr. Sie hoffte nur aus tiefstem Herzen, dass es nicht wieder anfing. Nicht heute. Jeden Moment konnte Jean erscheinen, um seine Körbe abzuholen. »Halte durch, mein Engel«, flüsterte sie.
    Luna litt an starken Leibschmerzen. Anne Langlois wusste nicht, wie sie ihrer Tochter noch helfen sollte. Es schien, als würden die Schmerzen von Tag zu Tag stärker werden. Geld für einen Medicus besaß Anne nicht. So musste sie tun, was sie stets in solchen Fällen tat: Sie braute einen Kräutertee, legte Luna kalte Wickel auf die Stirn und hielt an ihrem Bett Wacht.
    Sie ging hinüber zu der winzigen Kochstelle, schöpfte mit einer Kelle etwas Tee in einen Becher und setzte ihn ihrer Tochter an den Mund. Luna trank einen kleinen Schluck, dann fiel ihr Kopf wieder nach hinten auf das mit Stroh gefüllte Kissen. Anne seufzte.
    »Maman«, wisperte Luna. Ihre Augen blieben geschlossen.
    »Ja, mein Engel?«
    »Hörst du das Krächzen, Maman? Hörst du es?«
    Nicht schon wieder, dachte Anne. Warum muss das arme Kind so leiden? »Nein, ich höre es nicht. Schlaf, mein Engel. Schlaf.« Zärtlich streichelte sie die blassen Wangen.
    Plötzlich schlug Luna die Augen auf. »Es ist fort. Dunkelheit. Ich sehe nur Dunkelheit.«
    Erleichtert atmete Anne auf. Sie holte eine Schale mit Dinkeleintopf. »Iss
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