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Hexengericht

Hexengericht

Titel: Hexengericht
Autoren: Stefan Fandrey
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Zelle.
    Der Fichtenwald reichte bis an die hohen Mauern des Klosters. Ein breiter Weg führte durch das Dickicht direkt bis vor die Tore und weiter Richtung Rouen. Über dem Boden waberte Morgennebel.
    Vor den massiven, eisenbeschlagenen Toren von St. Albert fand Raphael seine Mitbrüder vollständig versammelt vor. Einige waren vertieft in leise Gespräche, andere standen stumm und frierend da. Raphael suchte nach seinem Freund Bruno und sah ihn kurz darauf kommen.
    »Bruder Raphael!«, rief Bruno und lief auf den Prior zu.
    Raphael lachte. »Langsam, Bruder«, sagte er. »Der Herr sieht die Eile gar nicht gern.«
    Raphael legte seinem Mitbruder die Hand auf die Schulter. »Wo ist er nun, Bruder?«
    »Du hast es wohl sehr eilig, deine Verpflichtungen als Prior abzugeben?«, fragte Bruno.
    »Sieben Monate waren eine lange Zeit«, antwortete Raphael und fuhr sich über die Tonsur, die von braunem Haar umkränzt war. »Es warten Aristoteles, Plato, Horaz und Homer auf mich.«
    Aus den Wäldern drang Hufgetrappel herüber.
    »Ich glaube, der Herr hat dich erhört!«, meinte Bruno.
    Und in der Tat – Augenblicke später erschien eine zweispännige Carretta mit dem Emblem des Heiligen Stuhls.
    Er lässt es sich nicht nehmen, mit gehörigem Pomp vorzufahren, dachte Raphael.
    Der Lenker nahm die Zügel und brachte sein Gefährt direkt vor Raphaels Füßen zum Stehen. Noch bevor die Pferde sich beruhigt hatten, wurde die Tür aufgestoßen, und ein Mann stieg aus und trat in den Vorhof des Klosters. Henri le Brasse war angekommen.
    Unter den Augen seiner fünfzig Mitbrüder ging Raphael zu Henri. Dieser fasste Raphael sanft bei den Schultern und zog ihn an sich, um ihm den brüderlichen Kuss zu geben.
    »Seid willkommen in St. Albert, Bruder Henri«, sagte Raphael und neigte mit gefalteten Händen seinen Oberkörper. Unauffällig betrachtete Raphael den neuen Prior. Henri le Brasse war ein Mann mit schwarzen Knopfaugen und spitzer Nase, die ihm das Aussehen eines Raben verliehen. Die Gestalt war hager, der Gang aufrecht. Sein Schädel war kahl bis auf einen schwarzen Haarkranz.
    Henri lächelte kalt. »Ich danke Euch, Bruder. Bevor wir mit der Wahl beginnen, führt mich ins Abthaus – und lasst den Zellerar und den Bursar ebenfalls erscheinen.«
    Verwundert rief Raphael Bruder Antoine und Bruder Joseph zu sich und bedeutete ihnen, ihnen zu folgen.
    Das Abthaus des Klosters lag direkt neben der Klosterkirche. Raphael hatte es von Beginn an vermieden, hier zu leben. Er wollte dieses äußerliche Zeichen äbtlicher Würde nicht annehmen. Stand es doch von vornherein fest, dass er die Geschicke des Klosters nur übergangsweise leitete. Das Abthaus verfügte über drei Räume: den Schlafraum, den Arbeitsraum und den Speiseraum. Raphael führte die kleine Gruppe zunächst in den Arbeitsraum, was Henri mit einem zustimmenden Nicken quittierte.
    Während der Kutscher die Habseligkeiten Henris in den Schlafraum stellte und gleich darauf wieder verschwand, schaute Henri in die Gesichter seiner Mitbrüder. »Ich will keine kostbare Zeit vergeuden. Bevor wir zur Wahl schreiten, wünsche ich einen Überblick über die Finanzen und Güter des Klosters zu erhalten.«
    Bruder Joseph war als Bursar des Klosters zuständig für die Finanzen und gemeinsam mit Bruder Antoine, dem Zellerar, für den Wohlstand der Klostergemeinde verantwortlich. Zwar war Joseph unvorbereitet, doch er hatte die Zahlen immer im Kopf. »Das Kloster verfügt zurzeit über bare Mittel in Höhe von 7 579 Livre, 3 544 Sous, 1 061 Gros tournois und 633 Gros parisi.«
    Wortlos blickte Henri zu Bruder Antoine.
    Der führte sogleich aus: »Das Kloster St. Albert erhält jährlich von seinen unfreien Bauern 5 800 Scheffel Getreide,
1 400 Schweine und Ferkel, 3 000 Hühner, 17 000 Eier,
12 000 Lot Leinen, drei Fässer Honig, 3 500 Eimer Wein,
1 100 Sous bares Geld, dazu noch über 3 000 Fuhrdienste und 15 000 Tage Arbeitsdienste.«
    »Grundherrschaften?«, fragte Bruder Henri.
    Der Zellerar überlegte einen Moment und sagte: »Im letzten Jahr erwarb das Kloster die Herrschaft über das Dorf Maromme. Zudem gehören zum klösterlichen Besitztum das Dorf Boos sowie alle angrenzenden Wälder. Die Rechte der Ländereien umfassen urkundlich Abgaben aus dem Grundbesitz, also von Höfen, Äckern und Weinbergen, dazu die Abgaben aus der Vergabe dörflicher Einrichtungen wie Mühle, Kelter und Badestube. Zudem verfügt die Abtei über die Rechte, in den Dörfern Steuern zu erheben
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