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Hexengericht

Hexengericht

Titel: Hexengericht
Autoren: Stefan Fandrey
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Priesterin fort, »rufe ich Dich! Höre und erinnere Dich! Segne in Deinem Namen diesen Mann! Auf dass er Dein oberster Priester und geringster Diener zugleich sei! Führe und schütze ihn auf seinen Wegen! Und strafe ihn, wenn er sich Deiner unwürdig erweist!« Mit diesen Worten setzte sie die Tiara auf das Haupt des Mönchs. »Erhebe dich, Sohn der flammenden Scheibe des Anu! Erhebe dich, Abkömmling der goldenen Waffe des Marduk! Erhebe dich, Bewahrer der Wahrheit!«
    Langsam stand er auf. Entrückt blickte er die Priesterin an. Auch die Priesterinnen und Mönche im Saal erhoben sich.
    Erneut griff die Priesterin in eine Nische des Altars und holte drei Rollen aus Ziegenleder heraus, die an den Rändern die Abnutzung von Jahrhunderten zeigten. Sogleich warfen sich die Mönche und Priesterinnen erneut auf den weißen Marmor. Feierlich überreichte sie die Rollen. »Auf dass du unsere Gemeinde auf ihrem Pfade weiterführst und das Geheimnis vor den Verrätern beschützt. So wie es viele vor dir getan haben und viele nach dir tun werden.«
    Der schwarze Mönch nahm die Rollen behutsam entgegen. Er wandte sich seiner Gemeinde zu und hielt die Rollen hoch. »Wendet eure Blicke auf die Wahrheit!«, rief er. »Kein Zauber soll euch hindern! Kein Spruch euch binden! Kein Gericht soll euch richten! Kein Kerker euch schinden! Nun geht und verstreut die Speise des Lebens. Geht und versprengt das Wasser des Lebens. Geht mit der Wahrheit im Herzen!«
    »Marzas zin kanpa!«, antwortete die Gemeinde ihrem neuen Abt.
    Der Mönch wandte sich der Priesterin zu. Ein kaltes Lächeln huschte über seine Lippen. Er legte die Rollen auf den Altar, nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie. Er war am Ziel seiner Wünsche …
    Das Land, in dem dies geschah, hieß Frankreich. Man schrieb das Jahr der Menschwerdung des Herrn 1331.

Erster Teil
Der Rabe
Wo ich auch hinblickte, es gibt nichts als Bilder des Todes.
Ovidius, Tristia 1. 11,23

Der neue Prior
    S echzehn Jahre später.
    »Bruder Raphael – wach auf, Bruder.«
    Das sanfte Rütteln an seiner Schulter riss Raphael aus einem tiefen Traum. Schlaftrunken öffnete er die Augen und erblickte über sich Bruder Brunos faltiges Gesicht. »Habe ich etwa verschlafen, Bruder?«, fragte er.
    »Nein, nein«, sagte der alte Mönch. »Wir haben die Nachricht bekommen, dass Bruder Henri früher eintrifft als erwartet. Es bleibt nicht einmal Zeit für das Morgengebet. Der gesamte Konvent versammelt sich in diesem Moment vor den Toren des Klosters.«
    »Ich verstehe«, murmelte Raphael. »Ich komme sofort.«
    Bruder Bruno verließ Raphaels Schlafzelle.
    Der Mond schien durch ein kleines Fenster in den schmalen Raum. Selbst die Sonne ist noch nicht erwacht, dachte Raphael. Er gähnte, fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht und stand auf. Auf einem Tisch standen eine Karaffe mit Wasser und eine Schale aus Ton, in die er das Wasser goss. Er fröstelte. Es war Herbst, doch die herrschende Kälte ließ bereits den kommenden Winter ahnen.
    »Bruder Henri«, flüsterte Raphael. Henri le Brasse sollte ihn als Prior des Dominikaner-Klosters St. Albert bei Rouen ablösen. Nachdem der letzte Prior, Bruder Michel, im Frühjahr gestorben war, hatte der Konvent ihn, Raphael, zum Prior gewählt. So lange, bis der Generalmagister des Ordens aus der fernen römischen Abtei Santa Sabina einen Nachfolger für Bruder Michel vorschlug. Seine Wahl war auf Henri le Brasse gefallen. Ein Dominikaner aus Carcassonne, der viele Jahre im Palast des Papstes in Avignon beschäftigt gewesen war. Obgleich Bruder Henri offiziell von den Mönchen des Klosters zum Prior gewählt werden musste, stand der Ausgang der Wahl fest. Es gab ohnehin keine Gegenkandidaten – und Raphael war der Letzte, der dieses Amt anstrebte. Seine Wahl zum Prior auf Zeit hatte, obwohl eine Ehre für ihn angesichts seines noch jungen Alters, stets eine Last für ihn bedeutet. Viel lieber widmete er seine Zeit der Erforschung und Übersetzung alter Schriften im Scriptorium.
    Nachdem er sich gewaschen hatte, warf er den weißen, wollenen Habit über. Er glich einer römischen Tunika mit langen, schmalen Ärmeln. Um die Hüfte band er einen Ledergürtel, an dem ein Rosenkranz hing. Darüber legte er das schwarze Skapulier. Das weite Kleidungsstück, das ebenfalls bis zum Boden reichte, bestand aus zwei Stoffbahnen, die vorne und am Rücken herabfielen, und einer angenähten Kapuze. Schließlich band er seine Sandalen um und verließ seine
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