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Hexengericht

Hexengericht

Titel: Hexengericht
Autoren: Stefan Fandrey
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sagen, ob ihr Kind sie überhaupt wahrnahm.
    »Er kommt auf einem Pferd, Maman«, hauchte Luna. Sie war nun etwas ruhiger. Doch plötzlich schrie sie wieder auf. »Feuer! Alles brennt! Nein! Nicht alles. Du brennst, Maman! Du brennst!«
    Anne erschrak zu Tode. Sie war unfähig, irgendetwas zu sagen oder zu tun.
    »Ich sehe ein Auge«, rief Luna. »Es blutet! Da ist ein Mann. Ich kenne ihn, aber ich kann sein Gesicht nicht sehen. Er ist ein guter Mensch. Er wird mir helfen. Vielleicht hilft er dir auch, Maman! Er hilft dir bestimmt!«
    Tausend Gedanken schossen Anne durch den Kopf. Nie hatte sie verstanden, was Luna in ihren Visionen vorhersah. Als Jeans Kuh verendet war, hatte sie ranzige Butter in einem Fass gesehen. Niemand konnte je sagen, welche Bedeutung die Bilder vor Lunas innerem Auge hatten.
    »Der Rabe kommt näher! Immer näher!«, schrie Luna. »Wir müssen fort, Maman! Weit, weit fort!«
    »Sssch, mein Engel«, flüsterte Anne. »Wir sind hier in Sicherheit!«
    Luna fuhr hoch. »Auf der Stelle!«, schrie sie, wie sie nie zuvor geschrien hatte.

    Die Pferde waren schnell gesattelt gewesen, und Henri und Raphael ritten auf der Straße nach Rouen. Die Sonne war hinter dicken Wolkenschichten verborgen. Über ihren Köpfen zogen einige Raben krächzend dahin.
    Der schweigsame Ritt bedrückte Raphael. Gern hätte er mehr über Henris Vergangenheit gewusst, traute sich aber nicht, ihn zu fragen. Zudem schien der Prior ein Mann zu sein, der die Stille schätzte. Und so suchte Raphael etwas Zerstreuung, indem er sich an Gottes Schöpfungen des Waldes erfreute.
    »Erzählt mir von Euch«, sagte Henri irgendwann unvermittelt.
    Raphael schrak auf. »Was begehrt Ihr zu wissen, ehrwürdiger Vater?«
    »Nun, woher stammt Ihr? Wer sind Eure Eltern?«
    Raphael sammelte kurz seine Gedanken. »Meine Eltern leben als Bauern in der Nähe von Dreux, zwei Tagesreisen von Paris entfernt.«
    »Leibeigene?«, wollte Henri wissen.
    »Freie Bauern, Vater«, gab Raphael zurück. Er wusste, worauf der Prior hinauswollte. Viele unfreie Bauern gaben ihre Kinder in die Obhut eines Klosters. Sei es aus religiöser Ergebenheit, aus finanziellen Erwägungen oder unter Zwang. Und der erzwungene Eintritt eines Kindes in die Gemeinschaft Gottes schürte später oft Insubordination und Lasterhaftigkeit. Henri prüfte seine Wurzeln und damit seine Demut.
    »Wie lange gehört Ihr dem Orden an?«, fragte der Prior weiter.
    »Ich trat dem Orden im Alter von zehn Jahren bei, Vater«, sagte Raphael. »Eine Nonne aus unserem Orden half mir auf die Welt. Meine Mutter blutete stark, und ihr Leben lag in Gottes Hand. Mein Vater versprach der Schwester, dass er mein Leben der heiligen Mutter Kirche schenken würde, wenn meine Mutter und ich die Geburt überstünden.«
    »Ein frommer Mann«, meinte Henri.
    Raphael nickte. »Er hat aus mir einen guten Christen gemacht, und ich habe freiwillig sein Gelübde erfüllt.«
    Damit schien Henri zufrieden. Er schwieg.
    »Woher stammt Ihr , ehrwürdiger Vater?«, fragte Raphael und biss sich auf die Zunge. Die Frage ziemte sich nicht für einen einfachen Mönch wie ihn.
    »Aus Montaillou«, antwortete Henri. Er schien an der Frage keinen Anstoß zu nehmen. »Sagt, wie steht Ihr zur Inquisition?«, fragte er unvermittelt.
    »Nun«, sagte Raphael gedehnt. Er spürte, dass es von großer Bedeutung für ihn selbst und für die Gemeinde war, was er nun sagen würde. Fieberhaft suchte er nach einem Ausweg. »Plato sagt im 11. Buche, Kapitel 772 seiner Schriften über die Gesetze: ›Es glauben gewisse Leute, dass sie durch allerlei Gaukeleien, Zaubersprüche und so genannte Bannformeln anderen Schaden zufügen können, und viele fürchten sich vor jenen, die sie im Besitz solcher Kräfte wähnen. Was für eine Bewandtnis es mit solchen Dingen hat, ist nicht leicht zu durchschauen, noch schwerer ist es, andere darüber zu belehren, ja es lohnt sich nicht der Mühe, dies bei Leuten zu versuchen, die bereits einen derartigen Verdacht gefasst haben.‹ «
    »Ihr meint demnach, dass Hexerei reine Einbildung ist?«, fragte Henri. »Eine Art Rausch … wie wenn man schweren Wein getrunken hat?« Er lachte trocken auf. »Sagt mir, mein Sohn, wem schenkt Ihr mehr Glauben: einem heidnischen Philosophen, dessen Gebeine längst zu Staub zerfallen sind, oder der Heiligen Schrift?«
    »Ohne Zweifel dem Wort Gottes, Vater«, antwortete Raphael.
    Er wollte noch etwas hinzufügen, doch Henri kam ihm zuvor: »Dann erinnert Euch der Worte
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