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Hexengericht

Hexengericht

Titel: Hexengericht
Autoren: Stefan Fandrey
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den Ordensregeln des Augustinus von Hippos. Sie besagten, dass der Mönch seinem Oberen wie einem Vater gehorchen solle. Mit dem gebührenden Respekt, der ihm kraft seines Amtes zustand. Andernfalls fehlte der Mönch gegen Gott.
    Nun gut, dachte Raphael. An Respekt soll es nicht mangeln. Aber wie steht es mit Henris Verpflichtungen gegenüber seinen Söhnen aus dem Kloster? Und den ihm anvertrauten Seelen der Gemeinde? Augustinus sagte hierzu, dass der Obere sich nicht deshalb glücklich schätzen soll, weil er kraft seines Amtes gebieten, sondern weil er in Liebe dienen kann. Durch unsere Hochachtung soll er unter uns herausgehoben sein, doch wegen seiner Verantwortung vor Gott soll er sich als der Geringste von uns einschätzen.
    Dient Henri in Liebe?, überlegte Raphael. Sah er sich als den Geringsten unter seinen Brüdern? Beide Fragen konnte er mit Nein beantworten. Henri war hochmütig und selbstgefällig. Schwere Sünden für einen Dominikaner.
    Und noch während der junge Mönch über seinen Zwiespalt nachdachte, erreichten sie ein kleines schmuckloses Haus, vor dem ein Mädchen spielte.
    »Luna!«, rief Raphael und winkte.
    Luna sprang auf und lachte mit erhobenen Armen. Dann sah sie Henri, schwankte und sank ohnmächtig zu Boden.
    Anne Langlois trat vor das Haus. Sie erblickte Henri, und der Tonkrug in ihren Händen zersprang auf den Dielen klirrend in hundert Teile.
    Und Henri le Brasse griff sich ans Herz, das Gesicht kreidebleich.
    Raphael saß auf seinem Pferd und verstand nicht, was um ihn herum vor sich ging.
    Da nahm Henri die Zügel, stieß seinem Pferd die Fersen in die Flanken und stob davon. Raphael konnte seinen Blick nicht von dem bewusstlosen Kind und der wie zu Stein erstarrten Anne abwenden. Dann folgte er Henri.
    Henri raste über das Land. Sein Pferd schnaubte und blähte die Nüstern. Es bereitete Raphael alle Mühe, mit dem wahnwitzigen Tempo mitzuhalten.
    Im Kloster angekommen, rannte Henri ins Abthaus, dicht gefolgt von Raphael. Eilig ergriff Henri Gänsekiel und Tinte und setzte eine Note an den Landvogt auf. Raphael spähte über die Schulter des Priors und versuchte zu lesen, was dort stand. Aber er vermochte kein Wort zu entziffern. Er konnte lediglich erkennen, dass Henri das Schreiben mit »Henri le Brasse, Prior des Klosters St. Albert und Inquisitor der heiligen Mutter Kirche« unterzeichnete. Er siegelte es und reichte es Raphael mit den Worten: »Gebt dies einem Boten, auf dass er das Schriftstück unverzüglich dem Landvogt überreiche. Eilt Euch!«
    Mit unheilvollen Gefühlen reichte er das Schreiben an einen Novizen weiter und trug ihm Henris Worte auf. Der Novize sattelte unverzüglich ein Pferd und ritt davon. Noch lange schaute Raphael dem Schüler vor den Mauern St. Alberts nach.
    Am selben Abend, kurz nach Einbruch der Dunkelheit, klopften vier Reiter in Rüstung und Waffen an die Tür von Anne Langlois …

    Am nächsten Morgen, noch vor den Laudes, verließ Henri le Brasse das Kloster auf einem jungen, starken Fuchs. Kurz nach Sonnenaufgang erreichte er Jean Brillons Hof. Verschlafen kam dieser gerade aus seinem Haus und suchte Erleichterung an einem dürren Baum, in dessen blattlosem Wipfel still ein Rabe hockte.
    Noch bevor Jean seine Gegenwart wahrnahm, war Henri abgestiegen und bis auf wenige Schritte an den Bauern herangekommen. »Guten Morgen«, sagte er.
    Jean fuhr herum, die Augen erschrocken aufgerissen. »Ehrwürdiger Vater!«, rief er. »Wo kommt Ihr denn so plötzlich her?«
    »Das ist nicht wichtig«, sagte Henri. »Ist dein Weib schon wach? Und deine Kinder?«
    »Sie schlafen allesamt noch, ehrwürdiger Vater.«
    Henri nickte. »Gut, dann höre, was ich dir zu sagen habe.«
    »Ich höre, ehrwürdiger Vater«, gab Jean zurück und schnürte hastig seine Hose zu.
    »Du kennst das Weib Anne Langlois?«
    »Sie ist mir gut bekannt.«
    »Hast du jemals etwas Auffälliges an ihr bemerkt?«
    Verständnislos starrte Jean den Prior an. »Ich verstehe nicht, ehrwürdiger Vater.«
    »Gab es, sagen wir, unerklärliche Phänomene, während sie zugegen war?«, fragte Henri ruhig weiter.
    »Es tut mir Leid«, beteuerte Jean, »aber ich weiß nicht, was Ihr zu erfahren begehrt, ehrwürdiger Vater.«
    Henri sah aus, als wollte er dem Bauern an die Kehle springen. Er ballte seine Hände zu Fäusten, auf die Stirn traten Zornesfalten. »Ich will von dir wissen, ob sie dir oder deiner Familie Schaden zugefügt hat, Mann!«, fauchte er. »Hast du irgendwann Anzeichen für
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